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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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mich in einen Aphasiker verwandelt, das heißt, ich leide an einer Störung des Sprachzentrums im Gehirn. Momentweise bin ich völlig hoffnungslos. Gegen eine Aphasie ist mein schaumiger Urin die reine Kinderei. Ich bestelle ein Glas Merlot. Die Frau hinter der Theke reicht mir einen kleinen Korb mit Mohngebäck und eine Schale mit grünen Oliven. Ich betrachte die Gäste an den Tischen. Es sind verdrossene Persönlichkeiten, die meisten unbekannt in ihre Innenwelt verzogen. Ein dunkelhäutiger Mann betritt mit einem kleinen Karton unterm Arm die Bar. Er verbeugt sich knapp vor Frau Schmittner. Aus seinem Karton holt der Mann eine Art Wunderbürste heraus und beginnt, Frau Schmittner mit der Bürste über den Rücken zu fahren, dann über die Schultern und die Arme. Die Leute an der Theke unterbrechen ihr Revolutionsgespräch und beobachten den Mann mit der Wunderbürste. Es handelt sich um eine Art Massagegerät, das der Mann nach einer Weile an Frau Schmittner verkaufen will. Darüber müssen die Thekensteher und Frau Schmittner lachen. Ich dachte zuerst, der Mann mit der Bürste ist ein Betrüger, dabei ist er nur hoffnungslos. Für die Dauer des Lachens sind die Gäste der Bar miteinander vertraut. Inmitten des Gelächters packt der Mann seine Bürste wieder ein und verläßt kleinlaut das Lokal. Jedesmal, wenn ich mein Mohnbrötchen zum Mund führe, fallen einzelne Mohnkörner auf die Theke herab. Die Wirtin schaut zu mir her mit demselben Blick, mit dem sie schon das Treiben des Bürstenverkäufers mißbilligt hat. Ich fange an, die einzeln auf der Theke herumliegenden Mohnkörner mit dem Zeigefinger der rechten Hand einzeln aufzuklauben (sie bleiben an meiner cremefeuchten Fingerspitze hängen) und sie im Hohlraum meiner anderen Hand zu sammeln. Die Wirtin ist von meinem Sauberkeitssinn beeindruckt und lächelt mich jetzt an. Ich höre mit meiner Ordnungstätigkeit erst auf, als ich das Mohnbrötchen ganz aufgegessen und das letzte Mohnkorn sicher in meiner anderen Hand verstaut habe. Der Hintergrund meines Einsatzes für ein sauberes Thekenleben ist für die Wirtin uneinsehbar. Während des Auftupfens der Mohnkörner verfliegt meine Verstimmung darüber, daß ich nicht weiß, ob es Liebesverblödung und/ oder Liebesblödigkeit gibt oder nicht. Sogar die Angst, daß ich an Aphasie erkrankt sein könnte, geht zurück. Um so dankbarer schaue ich die Wirtin an. Sie hat schon die Flasche in der Hand und will mir nachschenken, aber ich wehre ab und zahle.
    Draußen, auf der Straße, beobachte ich kurz eine verrückte Frau in einer Telefonzelle. Während sie telefoniert (telefoniert sie wirklich?), reißt sie immer mehr Seiten aus dem Telefonbuch, zerknüllt sie und wirft sie auf den Boden der Telefonzelle. Ich zerstreue die Mohnkörner in meiner Hand in alle vier Himmelsrichtungen.

6
    Du bist erschöpft, du hast Hunger, dein Eisschrank ist so gut wie leer und zum Einkaufen hast du keine Lust, sagt Sandra am Telefon.
    Du hast in allen vier Punkten recht, antworte ich.
    Wir lachen.
    Daran bin ich zum Glück gewöhnt, sagt Sandra; ich mache dir ein Angebot, ich komme gegen halb sieben mit einem gefüllten Picknickkorb bei dir vorbei.
    Wunderbar, sage ich, ich werde den Tisch decken.
    Ich bin tatsächlich erschöpft, aber ich bin zu unausgeglichen, um mich ausruhen zu können. Ich packe meinen Koffer aus und verteile die Hotelbleistifte und die Notizblöcke in der Wohnung. Während meiner Abwesenheit hat der Wind eines der unteren Vierecke im Küchenfenster meiner Nachbarin eingedrückt. Frau Schlesinger hat das Loch mit einem Stück Pappe geschlossen. Es ist der graue Karton, der mein Lebensgefühl nach einer Weile beeinträchtigt. Wenn der Karton für immer bleibt, kann ich nicht mehr so leicht leugnen wie zuvor, daß sich das Viertel langsam in eine Arme-Leute-Gegend verwandelt, wofür ich ohnehin schon etliche Anhaltspunkte entdeckt habe. Danach kippt die Bedeutung des Lochs im Fenster. Es wird jetzt zu einer zusätzlichen Aufforderung, das Frauenproblem rasch zu lösen. Dann werde ich auch meine Wohnung verlassen und derartige Anblicke für immer los sein. In meiner Post finde ich eine Anfrage der Evangelischen Akademie in Sattlach, ob ich im Frühherbst eine Apokalypse-Tagung durchführen möchte. Ich hätte nicht gedacht, daß die Apokalypse in diesem Jahr so gut läuft. Natürlich muß ich mich vor Überschätzungen hüten. Es ist möglich, daß schon im nächsten Jahr kein Hahn mehr nach der Apokalypse

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