Die Liebesbloedigkeit
kräht. Zu den Vorteilen von Akademie-Tagungen zählt, daß ich die gleichen Vorträge, die ich gerade für die Schweiz geschrieben habe, noch einmal halten kann. Ein anderer Vorteil ist: Ich muß mich nicht selbst um Teilnehmer kümmern. Die gesamte Organisation liegt in Händen der Akademie. Ich muß kein einziges Fax schicken, keinen einzigen Brief schreiben. Der Nachteil ist ein vergleichsweise niedriges Honorar. Es ist allerdings ein Garantiehonorar, das ich auch dann bekomme, wenn nur acht Teilnehmer anreisen, was leicht passieren kann. Die Tagung soll im Herbst stattfinden, und bei Nebel und fallenden Blättern beschäftigen sich die Menschen nicht gern mit der Apokalypse. Ein weiterer Nachteil ist, die Leute sind anhänglich wie kleine Kinder. Sie erzählen sich (und leider auch mir) in einem fort ihre aufwühlendsten und dramatischsten Erlebnisse. Sie verfolgen einen bis zum Bahnhof, manchmal sogar bis ins Zugabteil. Ich sitze schweigend dabei und wundere mich. Alles läßt im Alter nach, nur der Rededrang nicht, der wird sogar noch stärker.
Das Tischdecken bringt ein paar erzieherische Effekte mit sich, die meinem derzeitigen cholerischen Innenleben entgegenwirken. Schon das Ausbreiten eines frischen weißen Tischtuchs macht mich spürbar schlichter. Die großen Teller und die kleineren Salatteller habe ich noch relativ achtlos hingestellt. Bei den Gläsern, den Kerzen und den Servietten merke ich, daß ich meine Finger beobachte. Durch die planmäßige und der Schönheit folgende Arbeit der Hände kommt Stetigkeit ins Leben. Wenn ich einen Tisch decke, stelle ich mir vor, daß ich auch morgen und übermorgen wieder einen Tisch decke. Mit dieser Begütigung im Gesicht begrüße ich gegen halb sieben Sandra. Als sie den Tisch sieht, stößt sie Schreie des Entzückens aus. Sie liebt mich, das heißt, sie ist täuschungsbereit und denkt: Der macht das immer so. Sie ist damit einverstanden, daß ich ihr die Bluse öffne und ihr zuerst den Busen und dann den Mund küsse. Eines Tages werde ich mir selbst die Brust öffnen und mir meine überflüssige Kompliziertheit herausreißen und sie für immer an die Wand werfen. Sandra hat einen vollgepackten Picknickkoffer mitgebracht, von dem ich noch eine Woche werde zehren können. Kein Teller, keine Schale, keine Schüssel bleibt leer. Im Handumdrehen leuchtet der Tisch. Rundum sammeln sich Oliven, Artischocken, Radieschen, Maiskölbchen, Peperoni, Salami, Schinken, Käse, Butter, Brot, Nüsse. Sogar ein kühles Bier, Mineralwasser und eine Flasche Rotwein hat Sandra nicht vergessen. Schon in diesen Augenblicken meldet sich ein Zipfel meiner noch nicht an der Wand hängenden Kompliziertheit und flüstert mir zu: Paß auf, Verwöhnung hat Schuld im Gepäck. Ich fühle den Widerstand nur, wenn ich in meiner Wohnung umsorgt werde. Wenn die Versorgung in Sandras Wohnung stattfindet, bleibt der Widerstand aus. Das gibt mir Hoffnung. Ich überspiele mein Unbehagen, indem ich in höhnischer Manier von meinen Erlebnissen während des Seminars berichte. Sandra amüsiert die Art, wie ich über die Saarbrücker Rentner herziehe. Nur ich merke, daß mein Hohn nicht den Rentnern gilt, sondern meiner überflüssigen Schuld. Genaugenommen will ich mit meinem Innenleben nichts mehr zu tun haben. Beziehungsweise, wenn ich könnte, würde ich mein Innenleben nur noch bei besonderen Gelegenheiten an mich heranlassen.
Und was machst du jetzt? fragt Sandra später beim Abräumen des Tisches; du mußt doch hundemüde sein?
Bin ich auch, sage ich; ich werde mir im Fernsehen die erste halbe Stunde eines mäßigen Films anschauen. Der Film wird so schlecht sein, daß ich mir um neun erlauben kann, ins Bett zu gehen.
So kompliziert bist du? fragt Sandra spaßig.
So kompliziert bin ich, antworte ich und schaue Sandra dabei an. Ich habe wie immer das Gefühl, Sandra glaubt nicht an meine Kompliziertheit. Sie hält sie für ein albernes Getue, mit dem ich mich ein bißchen aufspielen will. Sandra packt meine schmutzige Wäsche und die löchrigen Strümpfe und die nach einmaligem Gebrauch bereits verschmuddelte Tischdecke in den Picknickkorb. Ich schaue ihr dabei zu und bin fasziniert davon, wie sich der vor einer Stunde noch leuchtende Picknickkorb ganz rasch in einen dumpfen Wäschekorb verwandelt.
Holst du mich am Freitag vom Büro ab? fragt Sandra.
Ja.
Dann kannst du deine Wäsche wieder mit nach Hause nehmen, sagt Sandra.
Der Hautarzt, den ich zwei Tage später aufsuche, sagt genau
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