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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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das, was ich mir vorgestellt hatte. Mein Ekzem geht zurück auf das Zusammenwirken von neuartigen Umweltgiften und einer seelischen Überlastung, wie sich der Hautarzt ausdrückt. Haben Sie zur Zeit Streß? fragt er. Da ich schweige, redet er für mich. Arbeiten Sie zuviel? fragt er. Ich überlege kurz, ob ich ihm darlegen soll, daß ich mich zwischen zwei Frauen entscheiden muß oder dies wenigstens glaube. Wollen Sie einen Allergietest machen? Nein danke, sage ich. Ich glaube nicht, sagt er, daß Sie eine Problemhaut haben, sonst hätten Sie mich schon viel früher aufgesucht. Er schreibt mir eine Salbe auf, mit der ich meine Hände zwei- bis dreimal täglich einreiben soll. Wenn die Salbe nach einer Woche nicht anschlägt, kommen Sie bitte wieder vorbei, sagt er.
    Ich bedanke mich und verlasse die Praxis. Das Wetter ist schwül und klebrig und wird noch schwüler und klebriger werden. Ich besorge mir die Hautcreme und reibe mir auf der Straße die Hände ein. Die Creme hat eine braun-gelbe Farbe und sieht ein bißchen eklig aus. An der Ecke Moselstraße/Siemensstraße kommt mir ein stadtbekannter Halbblinder entgegen. Seine Marotte ist, er trägt eine Katze auf der Schulter. Die Katze hat eine Leine um den Hals, deren Ende der Mann mit der rechten Hand umschließt. Ich kann den Mann eigentlich kaum ertragen, aber in schwierigen Lebensmomenten hilft mir sein Anblick. Es ist offenkundig, daß er die Katze zwingt, den unbequemen Platz auf seiner Schulter einzunehmen. Während des Gehens rutscht das Tier immer wieder nach hinten ab und krallt sich dann am Kragen des Mannes fest. Wenn die Katze zu stark nach unten abzurutschen droht, bleibt der Mann stehen und läßt sie wieder auf die Schulter hochkrabbeln. Gewöhnlich geht der Mann mit dem Tier in die Innenstadt und setzt sich zum Betteln irgendwohin. Gerade fällt mir auf, daß er seit neuestem zwei Blindenbinden trägt, an jedem Arm eine. Vermutlich ist er nicht blind, deswegen braucht er die Bekräftigung des Blindseins. Gerade will ich wieder in meinem Inneren gegen den Mann polemisieren, da fällt mir auf, daß mir sein groteskes Bild über meine cremeverschmierten Hände hinweghilft. Ich bleibe sogar stehen, schaue ihm eine Weile nach und vergesse darüber mein Ekzem, jedenfalls vorübergehend.
    Kurz vor dem Eintreffen in meiner Wohnung fängt mich Frau Schlesinger im Treppenhaus ab. Mit kurzen, undeutlichen Sätzen macht sie mich darauf aufmerksam, daß in der Regenrinne meines Balkons ein Taubenpaar sitzt und nicht mehr wegfliegt.
    Ach! sage ich, das habe ich nicht bemerkt.
    Ja, sagt Frau Schlesinger, Sie müssen sofort etwas unternehmen!
    Ich? Warum denn? Ich meine, was denn?
    Wenn Sie nichts tun, werden sich in Ihrer Regenrinne viele Tauben niederlassen.
    Oh! mache ich, meinen Sie?
    Die beiden haben in Ihrer Rinne ein Nest gebaut! Und sie brüten Eier aus! Haben Sie das nicht bemerkt?
    Nein, sage ich.
    Das kann ich nicht dulden.
    Und jetzt? frage ich.
    Haben Sie einen Schürhaken?
    Nein, antworte ich.
    Aber einen alten Besenstiel oder etwas Ähnliches haben Sie doch?
    Ich glaube nicht, sage ich, ich muß mal schauen.
    Wissen Sie was, ich leihe Ihnen meinen Schürhaken oder ich machs selber, sagt Frau Schlesinger.
    Sie geht in ihre Wohnung und kommt mit einem schwarzen Eisenstab zurück. Darf ich, sagt Frau Schlesinger und geht an mir vorbei in meine Wohnung, sie tritt hinaus auf den Balkon und beugt sich über das Geländer. Mit drei oder vier Griffen hebt Frau Schlesinger das aus vielen Ästchen und Blattresten bestehende Taubennest aus beziehungsweise stößt es mit dem Schürhaken aus der Regenrinne und läßt es in den Hof hinunterfallen. Die Entfernung des Nestes dauert fünfzehn Sekunden, dann sagt Frau Schlesinger So! und verläßt meine Wohnung. Wahrscheinlich müßte ich mich bedanken, aber ich bin so verblüfft, daß ich nur einen mißratenen Halbsatz hervorbringe. Ich setze mich auf einen Stuhl und schaue auf den Balkon hinaus. Wenig später höre ich, wie Frau Schlesinger im Hof die heruntergefallenen Nestteile zusammenfegt und im Mülleimer verschwinden läßt. Immer wieder frage ich mich, warum ich Frau Schlesinger nicht gehindert habe. Ich erleide so etwas Ähnliches wie eine Ermattung durch zuviel Wirklichkeit. Wenigstens an die Schwalben kommt Frau Schlesinger nicht heran. Wahrscheinlich wissen die Schwalben von meiner Verwirrung und teilen sie sogar. Fliegen sie nicht verblüffend nah an meinem Balkon vorbei und zwinkern mir zu? Eine halbe

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