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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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in den letzten Jahren überhand. Sie haben neuerdings breite, offene Schaufenster ohne Gardinen. Man soll es interessant finden, wie Friseure in anderer Leute Haare herumwühlen. Durch die Hitze entsteht ein Pfropfgefühl in den Ohren, als sei die Luft flüssig geworden. Ein bißchen Ruhe finde ich durch die Beobachtung eines älteren, weitgehend erstarrten Paares, das mit erheblichen Anstrengungen aus einem Auto herauskrabbelt. Der Mann streckt seinen Stock nach draußen und sucht mit diesem Verbindung mit der Straße. Die Frau hält sich mit beiden Händen an der Karosserie und zieht sich ächzend aus dem Gehäuse. Der Mann steht, allerdings fällt ihm der Stock auf die Straße. Die Frau schreit über das Autodach, daß sie den Stock aufheben werde. Ich werde Sandra verschweigen müssen, daß mir der Arzt einen Krankenhausaufenthalt empfohlen hat. Schon seit einer Weile frage ich mich, ob Sandra einen Termin genannt hat, wie lange ich mir die Annahme ihres Heiratsantrags überlegen darf. Oder ist ein solcher Antrag ewig gültig? Plötzlich wünsche ich mir, daß ich sowohl Sandra als auch Judith schon als Kind gekannt haben möchte. Ich fühle, daß in dem Wunsch eine große Zartheit für beide Frauen steckt. Angst steigt in mir hoch, daß ich immer tiefer in das Klima einer Überforderung hineinwachse. Eine Weile bleibe ich stehen, um den Wirren meines Konflikts besser standzuhalten. Einmal murmle ich einen Satz vor mich hin: Seht her, so schaut ein Mann aus, dem vielleicht nicht zu helfen sein wird. Etwa zwei Minuten lang stehe ich in meiner Gespaltenheit bloß herum. Ich versuche sogar, mit meinem Problem vor mir selber anzugeben. In Wahrheit bin ich schon lange unzufrieden mit meiner Art, mich vor mir selber als Wiedergänger des Unglücks aufzuspielen, aber die Unzufriedenheit hilft mir nicht. Tatsächlich hatte ich und habe ich in meinem Leben nicht mehr Unglück und nicht mehr Glück als die meisten anderen Menschen auch. Wie es trotzdem dazu gekommen ist, daß ich von Jugend an tragisch empfinde, ist mir schleierhaft. Wie mir diese nicht beendbare Unglückseitelkeit auf die Nerven geht! In diesen Augenblicken kommt Herr Bausback, der Postfeind, aus einem Zeitschriftenladen heraus und begrüßt mich. Er kommt mir heute aufgeschwemmter vor als sonst, auch schlechtriechend, aber erregt. Er hat eine Entdeckung gemacht, die er mit hastigen Sätzen mitteilt.
    Ich habe meinen Briefträger dabei ertappt, wie er mit seinem offenen Postwagen herumfuhr, obwohl es regnete!
    Nein, sage ich.
    Doch, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und tatsächlich fand ich später in meinem Briefkasten einen vom Regen halb aufgeweichten Brief, den ich fast nicht lesen konnte.
    War es ein wichtiger Brief?
    Zum Glück nicht! Aber so fahrlässig darf die Post nicht mit dem ihr anvertrauten Postgut umgehen!
    Ich gebe Bausback recht, worüber er sich freut.
    Und jetzt? frage ich.
    Jetzt kaufe ich mir eine Kamera!
    Sie wollen den Briefträger beim Umhergehen im Regen fotografieren?
    Genau! ruft Bausback; ein Foto ist ein Beweis! Damit kann ich die Post wegen erwiesener Nachlässigkeit verklagen!
    Ich stöhne leise vor mich hin.
    Wissen Sie, wo ein gutes Fotogeschäft ist?
    Ich schüttle den Kopf. Ich suche selbst... nach einem... Orthopädie-Fachgeschäft.
    Ahh! ruft Bausback, ist es soweit!
    Ich lache kurz, frage aber nicht, wie er seinen Ausruf meint.
    Gehen Sie einfach diese Straße immer weiter, nach ungefähr zweihundert Metern kommt auf der linken Seite das Seniorengeschäft Wagner, dort habe ich mal ein Bruchband gekauft!
    Wir trennen uns, ich gehe in die Richtung, die mir Bausback gezeigt hat. Die Straße führt aus dem Stadtkern hinaus. Es gefällt mir, wie sich die Innenstadt langsam in ein ländliches Ambiente verwandelt. Die Häuser werden kleiner und dörflicher, viele sind nur noch zweistöckig, manche haben Hofeinfahrten oder kleine Gärten zwischen Haustür und Straße. Da und dort tauchen ältere Wirtschaften auf, die noch immer ›Zum kühlen Krug‹, ›Zur Stadtgrenze‹ oder ›Zum starken Mann‹ heißen, wie sich im Zentrum kein Lokal mehr zu nennen wagt. An einer Kreuzung entdecke ich das Sanitätshaus Wagner. Im Schaufenster sind Behindertenstühle, Bettpfannen, Sicherheitsklos und Still-Büstenhalter ausgestellt. Als ich die Tür öffne, ertönt eine helle Glocke. Ein Mann Mitte Fünfzig tritt in den Raum, ich halte ihm mein Rezept hin. Der Mann holt diverse Schachteln aus einem Wandschrank und baut sie vor mir

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