Die Liebesbloedigkeit
beunruhigen. Das Problem ist nur, daß ich die vielen Ichs gar nicht haben möchte, im Gegenteil. Ich beharre darauf, daß ich heute genau derjenige bin, der ich schon gestern war und der ich übermorgen wieder sein werde. Ich strenge mich manchmal sogar an, mir selbst möglichst geschlossen und widerspruchsfrei zu erscheinen. Aber sobald ich längere Zeit auf einer Party bin, vergesse ich meine Prinzipien und vertrete Meinungen, die nicht die meinen sind, und betone nebensächliche Aspekte meines Lebens bis an die Grenze zur Peinlichkeit. Am persönlichsten, das heißt am geschlossensten, bin ich, wenn ich wie jetzt eine Straße entlanggehe und nur mir selbst einleuchten möchte. Leider befinde ich mich viel zu selten in diesen beglückenden Einsamkeiten. Auch die gerade durch mich hindurchziehende Unangefochtenheit geht in diesen Augenblicken schon wieder zu Ende, weil zwischen einem Steh-Café und einem Wollgeschäft der Ekelreferent Dr. Blaul auf mich zukommt und mich begrüßt. Dr. Blaul ist gut gelaunt, vielleicht hat er endlich einen Betrieb gefunden, den er für seine Idee des Ekelurlaubs hat gewinnen können.
Er deutet auf das Steh-Café und fragt, ob wir nicht eine Tasse Kaffee miteinander trinken sollen. Ich bin unschlüssig, aber ich entdecke im Schaufenster des Steh-Cafés ein Sonderangebot mit Fönen. Die Anschaffung eines Föns vor einigen Tagen ist gescheitert, weil ich kurz vorher Bettina getroffen habe und es zwischen uns zu einer peinigenden Szene kam. Ich nicke und betrete mit Dr. Blaul das Steh-Café. Wir tragen unsere Tassen an einen der Tische. Der Ekelreferent macht mich auf den unappetitlichen Zustand der Tassen aufmerksam. Sie haben vom vielen Gebrauch Abschürfungen und Risse davongetragen. Unsere beider Tassen haben überdies an den Innenseiten mehrere graue Stellen, die die ohnehin offen zutage liegende Schlampigkeit des Steh-Cafés auch in den Details verraten. Dr. Blaul deutet auf die Tassen und fragt, ob ich nicht auch ein bißchen Ekel empfinde.
Oh, mache ich, eigentlich nicht.
Aha, macht Dr. Blaul, Sie sind ekelresistent wie die meisten modernen Menschen.
Soweit würde ich nicht gehen, sage ich und will hinzufügen: Mir reicht mein eigener Ekel, aber ich unterdrücke die zweite Hälfte des Satzes.
Denn der Anblick der Föne erinnert mich an das Zusammentreffen mit Bettina. Vor etwas mehr als fünfundzwanzig Jahren, zu Beginn unserer Ehe, habe ich mir nicht vorstellen können, daß unsere Liebe zueinander jemals gestört werden oder gar aufhören könnte. Zu unserem Liebesspiel gehörte, daß sich Bettina hinlegte, die Beine öffnete und ich mich mit dem Mund über ihr Geschlecht beugte. Ich hatte das wonnige Gefühl eines Kindes (dieses Bild fiel mir damals oft ein), das mit nicht nachlassender Lust eine längst leere Schale mit Schokoladenpudding oder Eis noch einmal und noch einmal leerte. Eines Tages war es soweit: Unser Sexualleben ekelte mich. Es war so, daß Bettinas Geschlecht, während es auf seinen Höhepunkt hinzitterte, mehr und mehr Feuchtigkeit hervorbrachte, bis meine Lust in ihr Gegenteil umschlug, und zwar immer öfter, ehe Bettina ihren Orgasmus erreicht hatte. Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr mich die überraschende Wende in der Empfindung erschreckte und verwirrte. Ich konnte nicht mehr anders, ich mußte auf diesen Teil unserer Intimität mehr und mehr verzichten. Dr. Blaul redet jetzt über die innere Betäubung des Ekelgefühls, von der ich nicht sage, daß sie mir weder damals noch später gelang. Bettina schaute mich immer öfter ratlos an, sie wartete auf eine Erklärung, die ich nicht geben mochte. Ich konnte ja nicht sagen: Die Menge deiner Sämigkeit überfordert mich – oder so ähnlich. Das plötzliche Besudelungsgefühl inmitten des Entzückens war unaufhebbar für immer. Die Heimsuchung des Ekels zerstückelte mein Vergnügen vor meinen Augen, sie verschloß mir den Mund und verwandelte meinen früheren Eifer in eine Erinnerung an eine vergangene Lust. Noch heute erschauere ich über die unerhörte Verstecktheit unseres Unglücks, noch immer überwältigt mich die Tragödie der Scham, die mich damals und heute vorübergehend stumm werden läßt.
Sie sind ein höflicher Mensch, sagt Dr. Blaul, Sie wollen sich nicht in den Ekel eines kleinen Steh-Cafés einmischen.
Nein nein, sage ich, ich denke nur über Ihre These nach, daß die meisten modernen Menschen ekelresistent sind.
Dr. Blaul lacht. Die These gilt nur für den minimalen
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