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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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auf der Theke auf. Im Augenblick, als ich die vielen Strümpfe sehe, fällt mir ein Erlebnis mit meiner Mutter ein. Es war in einem tiefverschneiten Park, meine Mutter und ich waren weit und breit die einzigen Spaziergänger. Plötzlich kam ein Mann mit schnellen Schritten auf meine Mutter zu. Mit der linken Hand hielt er den Oberkörper meiner Mutter fest, mit der rechten griff er ihr unter den Rock. Ich war neun Jahre alt und verstand nichts. Geh weg! rief mir meine Mutter zu. Ich ging nicht weg, ich schaute zu, was der Mann mit meiner Mutter machte. Etwa zwei Minuten lang kämpfte er mit der Hand unter dem Rock meiner Mutter. Dann sah er sich um und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Mutter nahm mich an der Hand, wir gingen rasch nach Hause. Beim Abendbrot erzählte sie meinem Vater, daß sie heute von ihren langen Wollunterhosen gerettet worden ist. Der Kerl wollte mir an die Wäsche, sagte sie, aber das Wollzeug hat ihn mutlos gemacht! Die Kompressionsstrümpfe aus dem Seniorenhaus Wagner sind entweder schwarz, braun oder ekelhaft fleischfarben. Ich nehme die fleischfarbenen, damit ich ganz sicher bin, sie nicht ein einziges Mal zu tragen. Der Mann verpackt die Strümpfe, ich sehe ein kleines Schild mit der Aufschrift: Wir verleihen Gehstöcke. Draußen überlege ich, was geschehen soll, wenn ich einmal krank werde und Pflege brauche. Für den Fall, daß ich mit Sandra verheiratet wäre, könnte ich mich nicht von Judith pflegen lassen und umgekehrt. Du darfst nicht krank werden und nicht heiraten, sage ich ernsthaft zu mir.
    Es wird ein Uhr, ich werde müde, hungrig und immer empfindlicher. Neben dem Eingang einer schlichten Wirtschaft steht eine Tafel mit dem Angebot: Suppe mit Brot 2,– Euro. Die Offerte ist mir sympathisch. Sie stützt meine Überzeugung, daß eine neue Armut auf uns zukommt, die uns dann in einen neuen Faschismus hineinstoßen wird. Im Inneren der Wirtschaft sehe ich breite Tische und alte Holzstühle. Ich nicke den einzigen Gästen zu, einem älteren Arbeiterehepaar, das in der Nähe des Ausschanks sitzt. Eine Frau erscheint und tritt vor mich hin. Ich bestelle die Suppe mit Brot und ein Glas Wasser. Das Arbeiterehepaar streitet darüber, ob die Brille des Mannes häßlich ist oder nicht. Die Frau will, der Mann soll sich eine neue Brille anschaffen, der Mann will nicht. Wieso denn, fragt er schon wieder, ich trage die Brille seit fünfzehn Jahren, und plötzlich fällt dir ein, daß sie häßlich ist. Ich nehme an, die Frau will dem Mann eigentlich sagen, daß er selber häßlich geworden ist, nicht die Brille. Es ist sogar möglich, daß die Häßlichkeit des Mannes über die Jahre hin auf die Brille übergegangen ist.
    Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, kommen aus der Küche, gehen im Lokal umher und schauen mich an. Der Junge ist etwa neun Jahre alt, das Mädchen vielleicht sechs. Der Junge setzt sich an meinen Tisch, das Mädchen bleibt im Raum stehen und schaut. Der Junge holt einen Kamm aus seiner Hosentasche und fängt an, mich zu kämmen. Ich bleibe stumm und rühre mich kaum. Der Junge hat Vergnügen daran, mein Haar mal nach links, dann wieder nach rechts zu kämmen. Zwischendurch frisiert er das Haar nach vorne und zieht an beliebigen Stellen einen Scheitel. Das Mädchen bleibt auf Distanz und kichert leise. Eine Weile kommt niemand, dann tritt die Frau, vielleicht die Mutter der Kinder, mit der Terrine aus der Küche. Der Junge läßt von mir ab, bleibt aber in meiner Nähe. Die Frau stellt die Terrine vor mir auf den Tisch, geht erneut in die Küche und bringt ein Glas Wasser und zwei Scheiben Schwarzbrot. Die Suppe schmeckt ausgezeichnet. Es ist eine Gemüsesuppe mit Eierpfannkuchenstreifen drin. Auch das Wort Eierpfannkuchenstreifen gefällt mir, ich wiederhole es in meinem Inneren und mache es dabei noch ein bißchen länger: Eierpfannkuchenrandstreifen. Denn am Rand sind Eierpfannkuchen besonders knusprig; das merkt man auch dann noch, wenn der Rand in Form von Streifen in einer Suppe gelandet ist. Man sollte überhaupt nur essen, wenn man dabei gute Wörter im Kopf bewegen kann. Ich fühle, die Kinder warten, daß ich mit der Suppe fertig werde. Auch mich drängt es, von dem Jungen weiter gekämmt zu werden. Durch die Berührungen der kleinen Kinderfinger fällt mir ein, daß ich, als ich Kind war, gerne meinen Vater umfrisiert habe. Auch er ließ mich gewähren, wie ich jetzt den Jungen gewähren lasse. Neulich, auf dem Friedhof, habe ich meinen Vater

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