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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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verleumdet. Ich habe vor mir selber so getan, als gebe es nur negative Erinnerungen an ihn. Das ist ein weiteres Beispiel für meine lächerliche Unglückseitelkeit, für mein gar zu automatisches tragisches Empfinden. Das tut mir jetzt leid. Immerhin korrigiere ich hier und jetzt meine Erinnerung. Das ist ein gutes Zeichen. Schon ist die Terrine leer. Ich lehne mich zurück und kaue an einer Schwarzbrotscheibe. Der Junge nähert sich mir erneut. Das Mädchen traut sich nicht, es bleibt in der Nähe der Theke stehen, hält sich eine Hand vor den Mund und kichert. Der Junge kämmt jetzt kräftig die eine Hälfte meines Haars nach links, die andere nach rechts. Das Mädchen muß so sehr lachen, daß es in die Küche rennt. Ich erinnere mich, daß ich von Zeit zu Zeit vor meinen Vater hintrat und über seinen Anblick ebenfalls lachen mußte. Es berührt mich, daß mein Vater damals so großzügig war. Das Mädchen kommt mit einem schönen Ball aus der Küche und rennt mit ihm hinaus ins Freie. Plötzlich läßt der Junge von mir ab und springt ebenfalls hinaus ins Freie. Momentweise empfinde ich Neid auf das Kinderleben. Nur Kindern sind derartig überraschende Abbrüche erlaubt. Mit zwei Handbewegungen ordne ich mein Haar. Mir fällt ein, daß ich als Kind meinen Ball nicht mit auf die Straße nehmen wollte. Ich hatte Angst, daß er durch das Spielen zu schnell unansehnlich würde. Es genügte mir, den Ball in der Wohnung in der Hand zu halten. Das Gefühl beim Ballhalten war das Glück. Eine Weile nahm ich meinen Ball auch mit ins Bett. Wenn der Ball ruhig neben meinem Kissen lag, ging ebenfalls reines Glück von ihm aus. Die Frau tritt in den Gastraum und räumt die leere Terrine und das Glas ab. Ich zahle und suche kurz die Toilette auf. Wieder ist mein Urin schaumig. Ein bißchen beunruhigt durchquere ich den Gastraum und gehe nach Hause.
    In meiner Post ist eine Karte von Sandra. Mein Lieber, schreibt sie, hoffentlich kommst du ohne mich zurecht. Ich bin gerade angekommen, meine Schwester ist sehr nervös. Ich beruhige sie, denn ich glaube, sie braucht sich wegen des Kindes keine Sorgen zu machen. Gießt du auch meine Blumen? Gruß und Kuß Deine Sandra. In meinem Arbeitszimmer lege ich die Post ab. Aus Neugierde probiere ich die Kompressionsstrümpfe an. Ich kann kaum glauben, daß man derartig feste und enge Strümpfe wirklich tragen soll oder kann oder muß. Ein paar Minuten lang gehe ich in den Strümpfen in der Wohnung umher, dann ziehe ich sie wieder aus und betrachte die Druckstellen auf meinen Beinen. Warum schickt mir Judith keine Postkarte? Warum schickt Judith überhaupt nie Postkarten? In meiner Post ist auch ein Brief der Deutschen Apokalyptischen Gesellschaft. Sie will für ihr nächstes Jahrbuch einen Beitrag von mir. Es darf auch ein bereits anderswo veröffentlichter Text sein. Endredaktion ist der 31. Oktober. Aus Versehen lese ich anstelle des Wortes Endredaktion das Wort Enderektion. Zwei Sekunden später landet ein schwarzer Vogel auf meinem Kopf und schaut an meiner Statt in die Welt. Der Verleser führt sofort zu einer Verelendung meiner inneren Lage und zu einer Ermattung aller meiner Glieder. Ich will nicht schon wieder vom Altersproblem durchzuckt werden, aber es gibt neuerdings keine Ruhe mehr. Dabei habe ich längst den Eindruck, daß meine Angelegenheiten nicht mehr von mir durchlebt werden wollen. Meine Art des Denkens ist meinen Problemen unangenehm. Genaugenommen langweilen mich meine Konflikte sogar, aber ich darf dieser Langeweile nicht folgen. Ich stehe, liebestechnisch gesehen, mit dem Gesicht, das heißt mit dem Geschlecht, zur Wand. Ich sollte mich vom Sexualleben zurückziehen; ich verliere, wie soll ich sagen, mehr und mehr Liebessubstanz, vornehmer ausgedrückt: an Libido. Ich müßte Mut haben und zu Sandra und Judith sagen: Der aktive Teil meines Sexuallebens geht vermutlich bald zu Ende, ich bitte darum, verlassen zu werden. Die Feigheit dieses Gedankens ist leider typisch für mich. Denn genaugenommen ist Altern ein Zustand, der zu mir paßt. Altern ist nur ein anderes Wort für Unwilligkeit, und unwillig war ich schon als Kind. Im Grunde habe ich von Kindheit an auf das Altern gewartet, es ist mir ähnlich. Warum mache ich mir diese Auffassungen nicht zu eigen? Warum lasse ich mich statt dessen von dem Wort Enderektion quälen, das ich auch noch selbst erfunden habe? Auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer entdecke ich Brotkrümel. Im ersten Augenblick erschrecke ich, aber

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