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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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dann erinnere ich mich: Ich habe gestern nacht ein halbes Brötchen gegessen, hier am Tisch, inmitten einer nächtlichen Ratlosigkeit. Soviel ist klar: Ich will bei meiner Enderektion nicht dabeisein. Das heißt, ich muß vorher aufhören. Aber ich möchte nicht aus Angst schon jahrelang vorher aufhören, sondern so spät wie möglich. Und wie, bitte, soll ich diesen Zeitpunkt erkennen? Es zeichnet sich ab, meine Konfliktwoche wird vorübergehen und ich werde die Frauenfrage nur ein bißchen herumgetragen haben. Ich sehne mich nach Sandras Einfalt, von der ich mich nie bedroht gefühlt habe. Ich möchte Sandra von hinten nehmen und seitlich von oben dabei zuschauen, wie ihre Brüste beim Vögeln hin- und herschaukeln. Ich meine das nicht pornographisch, ich meine es mütterlich, warmherzig und ausweglos: Schaukelnde Brüste sind ein Ausdruck von Heimat und Freude. Ich bin froh, daß ich in meiner Wohnung bin und von niemandem beobachtet werden kann. Nach etwa fünfzehn Minuten läßt die Einschüchterung des Wortes Enderektion nach. Ich finde den Weg zum Telefon und rufe die Deutsche Apokalyptische Gesellschaft an. Vielen Dank für Ihren Brief, sage ich zur Sekretärin, ich werde einen Beitrag abliefern. Dann ist es wieder still in der Wohnung. Ich gehe ans Fenster und schaue zu den anderen Wohnungen hinüber. Ein leichter Ekel zieht durch mich hindurch, als ich die in der Nacht verschwitzten Kissen sehe, die auf einigen Balkonen zum Trocknen ausliegen. Ich frage mich, ob mich der Junge in der Wirtschaft wieder frisieren wird, wenn ich dort noch einmal auftauche. Die unaussprechlich sanften Berührungen durch die Kinderfinger erinnern mich an einen furchtbaren Sommer vor einunddreißig Jahren, als Bettina und ich ein Kind abgetrieben haben. Bettina nahm heiße Bäder und rannte im Laufschritt durch den Park, aber der Embryo löste sich nicht. Ich weiß nicht mehr, von wem wir die Adresse eines Kurarztes in Bad Kissingen bekommen haben. Er versprach, die Sache an einem Vormittag zu erledigen, und verlangte dafür tausend Mark. Wir fuhren nach Bad Kissingen und quartierten uns in einem Kurhotel ein. Der Arzt nahm den Eingriff vor, aber Bettina verlor den Embryo nicht. An fünf aufeinanderfolgenden Vormittagen mußte Bettina den Gynäkologenstuhl besteigen. Erst am sechsten Vormittag war der Eingriff erfolgreich. Nach zwei Stunden taumelte Bettina aus der Praxis. Sie klagte über Schmerzen und stöhnte auf der Straße. Nach einer Viertelstunde war sie so geschwächt, daß wir uns im Kurpark auf eine Wiese legten. Zum Glück war die Wiese so weiträumig, daß uns niemand weinen hörte. Es quält mich die peinliche Phantasie, der Junge, dessen Finger mich berührt haben, sei der Engel des Kindes, das Bettina und ich aus der Welt geschafft haben. Wie so oft leide ich unter zu starken Empfindungsströmen. Eigentlich bin ich nur müde und müßte eine Stunde schlafen. Aber leider sind Müdigkeit und Schlaf bei mir zwei sehr verschiedene Dinge, die nicht oft zusammenfinden. Ich laufe in der Wohnung umher wie eine aufgeschreckte Jungfer, die bald an Schicksalsüberschätzung eingehen wird. Da klingelt das Telefon. Ich schrecke zusammen, als hätte ich vergessen, daß es Telefone gibt. Es ist Sandra.
    Meine Schwester ist geschieden, ruft sie, das Familiengericht hat ihr das Sorgerecht zugesprochen!
    Sandra redet, ich höre zu. Sonderbar ist, daß die Nachricht des der Mutter zugesprochenen Sorgerechts auch mich besänftigt. Die Mitteilung gleitet in mich hinab, als hätte ich auf nichts anderes gewartet als auf diese Erleichterung.
    Hast du meine Blumen auch nicht vergessen?
    Wo denkst du hin, sage ich, ich übersehe kein einziges Stiefmütterchen.
    Das ist auch gar nicht möglich, sagt Sandra, weil sich in meiner Wohnung kein einziges Stiefmütterchen befindet.
    Jaja, sage ich, du weißt doch, daß ich die Namen der Blumen durcheinanderbringe.
    Schon gut, sagt Sandra und lacht; ich bleibe noch drei Tage bei meiner Schwester, vielleicht auch vier.
    Erhol’ dich gut, sage ich.
    Das Kind ist glücklich, daß es bei seiner Mutter bleiben darf.
    Mein Gott, mache ich hilflos.
    Tschüß!
    Sandra legt auf. Ich bleibe eine Weile neben dem Telefon sitzen und schaue dabei zu, wie sich die Beruhigung über das der Mutter zugesprochene Sorgerecht in meinem Inneren weiter ausbreitet. Ich kenne Sandras Schwester nicht. Ich habe weder Mutter noch Kind ein einziges Mal gesehen. Nach einer Weile fesselt mich das Insektengebrumm, das ich in

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