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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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gewöhnlichen Tagesekel, sagt er.
    Ach so, mache ich.
    Mit dem kleinen Ekel leben wir, sagt er, den großen können wir nicht fassen.
    Mit einem kleinen Aufkommen von Tagesekel trinken wir unsere Tassen leer und bringen sie zur Theke zurück. An der Tür fällt mir ein, daß ich mir hier einen neuen Fön kaufen will. Ich verabschiede mich von Dr. Blaul und kehre noch einmal in das Steh-Café zurück. Eine Verkäuferin packt mir einen Fön ein, ich zahle und gehe. Das Päckchen in der Hand hilft mir, die Erinnerung an die Scham zu überwinden und mich wieder ins Leben hineinzuschieben.

8
    An einem Dienstagmorgen sitze ich im Wartezimmer des Arztes, dessen Adresse mir Sandra aufgeschrieben hat. Am liebsten würde ich zu dem Doktor sagen: Meine Krampfadern sind in Ordnung, ich bin nur hier, weil mich eine Frau zu einem einmaligen Arztbesuch gezwungen hat. Ich weiß kaum, wo ich hinschauen soll. An der Wand links hängt ein Plakat über die ersten Anzeichen von Schlaganfällen, an der Wand rechts ein Plakat über Venenleiden und genau vor meinen Augen eine Bildtafel über die häufigsten Hauterkrankungen. Ich bin dankbar, daß ich in der neben mir herunterhängenden Nesselgardine ein kleines rundes Loch entdecke. Es sieht aus, als hätte ein erregter Patient mit einem Bleistift das Loch in die Gardine gestoßen. Weil auch ich erregt bin, stecke ich die Spitze meines linken kleinen Fingers in das Loch und mache es damit ein bißchen größer. Es gelingt mir, sämtliche Warntafeln zu ignorieren. Ich werde meinen Tod sowieso nicht verstehen, also muß ich auch die ihm vorausgehenden Zeichen nicht verstehen. Das ist ein ausgezeichneter Abwehrgedanke, der wie ein Fels in der Mitte des Wartezimmers aufragt. Ich habe nicht die geringste Lust, die anderen Leute im Wartezimmer zu betrachten. Ich empfinde Sehnsucht nach meinen beiden Frauen. Eine Weile überlege ich, ob ich Sandra und Judith meine beiden Frauen nennen darf. In einem Wartezimmer, finde ich, ist mir eine derartige Zusammenfassung erlaubt. Sie macht mich reich inmitten der Armutsanmutung des Wartezimmers.
    In einem kleinen Lautsprecher im rechten oberen Winkel des Wartezimmers ertönt mein Name. Gehen Sie bitte in Behandlungszimmer vier, sagt eine Frauenstimme. Die Größe der Praxis schüchtert mich ein. In Behandlungszimmer vier setze ich mich auf einen Plastikstuhl und sehe jetzt unausweichlich auf eine Warntafel über Gelenkerkrankungen. Kurz danach betritt ein junger Doktor den Raum und sagt: Womit kann ich Ihnen helfen?
    In letzter Zeit habe ich immer wieder Muskelkrämpfe und Schmerzen in den Beinen, sage ich.
    Darf ich mal sehen, sagt der Arzt und tritt vor mich hin. Ich erhebe mich, öffne den Gürtel und lasse meine Hose auf den Boden gleiten.
    Oh, macht der Arzt, sind Sie erblich belastet?
    Vermutlich, sage ich, mein Vater hatte auch Krampfadern, meine Mutter hatte sogar offene Beine.
    Die kriegen Sie auch, wenn Sie nichts tun, sagt der Doktor; fürs erste verschreibe ich Ihnen ein Paar Kompressionsstrümpfe, die Sie täglich tragen sollten.
    Auch nachts?
    Nachts nicht, sagt der Arzt; am besten wäre, Sie legen sich mal eine Woche ins Krankenhaus und lassen sich die verbrauchten Krampfadern ziehen.
    Oh Gott, stöhne ich.
    Der Arzt erklärt, wie es ist, wenn das Blut durch die Adern fließen will und nicht kann, weil die Venenklappen verschlossen sind. Das Wort Venenklappen flößt mir eine so starke Unlust ein, daß ich dem Arzt nicht mehr zuhöre. Ich schaue aus dem Fenster und beobachte eine Frau, die auf einem Balkon des Hauses gegenüber mehrere nasse Bettücher aufhängt, vermutlich gegen die Hitze. Der Doktor kniet vor mir nieder und mißt die Entfernung zwischen meinen Kniekehlen und meinen Fersen, danach den Umfang meiner Waden. Er füllt ein Rezept mit den Maßen aus und sagt: Ich verschreibe Ihnen eine Großpackung mit Magnesiumtabletten. Sie nehmen bitte eine Tablette morgens und eine abends.
    Ich ziehe meine Hose hoch und bedanke mich.
    Im Türrahmen sagt der Arzt: Und überlegen Sie, ob Sie nicht eine Woche lang ins Krankenhaus gehen sollten, das wäre die sauberste Lösung für Ihr Problem.
    Ja, sage ich eilig; und wo kriege ich die Kompressionsstrümpfe?
    In jedem Orthopädie-Fachgeschäft.
    Eine Minute später bin ich auf der Straße und atme mehrmals durch. Ich sehe eine Menge Toto- und Lotto-Annahmestellen, Metzgereien, Obst- und Gemüseläden, Friseursalons und Bäckereien, aber kein Orthopädie-Fachgeschäft. Die Friseursalons nehmen

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