Die Liebesbloedigkeit
noch billigen. Während des Vögelns empfindet Sandra so starke Lust, daß sie zwischendurch ein bißchen weinen muß. Ich vermute, sie weint wegen einer zukünftigen Katastrophe; ihr Unbewußtes ist sicher, daß sie verlassen werden wird. Nach drei Minuten taumelt sie geschwächt von den Weinkistchen herunter und hängt sich schluchzend an mich. Mein Gott, wie mich das mitnimmt, sagt sie und legt sich nackt auf das Bett.
Was nimmt dich mit? frage ich.
Daß ich ein paar Tage von dir weg muß, sagt Sandra.
Ach so, mache ich.
Versprichst du mir, daß du zum Arzt gehst?
Warum?
Wegen deiner Krampfadern, sagt Sandra.
Ach, mache ich.
Nichts ach, sagt Sandra, ich möchte, daß du zum Arzt gehst, während ich bei meiner Schwester bin; versprichst du mir das?
Na schön, sage ich.
Ich bringe Sandra das Weinglas ans Bett und warte auf die intimen Augenblicke, wenn Sandra zu einem Taschentuch greift und sich den Samen zwischen den Beinen abfängt. Sie liegt auf dem Rücken, ihre Beine sind übereinandergeschlagen. Wie ein Kind bewegt sie ihre Zehen und schaut sich dabei zu. Besonders beeindrucken mich ihre rot gewordenen Liebesohren, die wunderbar über ihren weißen Schultern leuchten. Jetzt sind die Augenblicke da: Sandra faßt sich mit einem Taschentuch zwischen die Schenkel und schaut dann mit rätselhaft mürrischen Blicken auf meinen Samen. Seit Jahren möchte ich wissen, woher diese plötzliche Liebesmürrischkeit kommt, aber ich wage nicht zu fragen. Obwohl Sandra ein paar Jahre jünger ist als Judith, ist ihre Haut mürber und hefiger als die Haut von Judith. Auch ist Sandra in den letzten Jahren fülliger geworden, Judith dagegen noch magerer und sehniger. Sandras Brüste fallen auseinander wie die Augenpartien einer zu breiten Maske. Seit langer Zeit bin ich nicht befremdet von Sandras ausladender Körperlichkeit. Sie stützt sich auf, um an das seitlich stehende Weinglas heranzukommen. Durch die Drehung des Körpers legt sich ihr Bauch in ein paar übereinandergeschichtete Wülste. Wenn auf der vorderen Ausbuchtung einer der Wülste nicht eine Brustwarze erkennbar wäre, würde ich nicht wissen, daß es sich dabei um eine jetzt schräg liegende Frauenbrust handelt. Der Anblick stößt mich nicht ab. Erotische Anziehung ist es immer weniger, warum ich mich diesem Körper nähern möchte. Welche Gründe sind es dann? Ich gehe nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet an Sandra vorüber. Ich spüre, genauso mürrisch wie auf meinen Samen schaut sie jetzt von hinten auf meine Krampfadern. Auch Sandra ist offenbar nicht befremdet von meinem Anblick.
Wir ziehen uns an. Wir haben Zeit vertrödelt, Sandra telefoniert ein Taxi herbei. Ich frage, ob ich nur die Balkonblumen oder auch die Blumen in der Wohnung gießen soll. Alle Blumen, sagt Sandra. Im Treppenhaus gibt sie mir ein Zettelchen mit der Adresse des Arztes, zu dem ich gehen soll. Drei Minuten später fährt das Taxi heran. Sandra steigt überhastet ein. Ich bleibe am Straßenrand zurück und winke ihr nach.
Während ich winke, steigt eine Angst in mir hoch. Es ist die Angst, daß mein Wunsch nach Ordnung ( eine Frau, eine Liebe, eine Wohnung, eine Klarheit) sowohl die gegenwärtige als auch alle zukünftigen Ordnungen zerstören wird. An manchen Tagen fühle ich den Schmerz deutlicher; offenbar ist heute so ein Tag. Viele zerzauste und abgewirtschaftete Leute gehen an mir vorbei. Ein leicht angetrunkener Mann mittleren Alters kommt auf mich zu. Hallo, wie gehts! ruft er aus und gibt mir die Hand. Ich erinnere mich nicht an den Mann, ich kenne ihn nicht. Von Steffan, sagt der Mann, hast du Steffan auch vergessen? Ich kenne keinen Steffan, es ist mir peinlich. Der Mann läßt mich stehen, er überquert die Straße, ich schaue ihm nach, vielleicht erinnert mich sein Gang an irgend etwas. Dann sehe ich, daß er auf einen anderen Fremden zugeht, ihn anspricht und ihm ebenfalls die Hand reicht. Auch der neue Fremde zuckt mit den Schultern, auch er weiß von nichts. Mein Gott, er ist verrückt, nicht ich, denke ich unangemessen erleichtert. Wieder habe ich ein bißchen Angst vor Morgenthalers Party. Ich werde viel zuviel reden und auch noch voller Eifer. Schon nach einer Stunde werde ich mir total unauthentisch vorkommen. Ich lese und höre immer wieder, daß die Menschen heute ein multiples Ich haben und daß es völlig normal ist, wenn wir heute ein anderes Ich haben als gestern und vorgestern. Insofern müßte ich mich über meine Nichtauthentizität nicht
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