Die Liebesbloedigkeit
meinem Zimmer höre. Ich kann am Fluggeräusch erkennen, ob es von einer Fliege, einer Biene oder einer Wespe herrührt. Es kommt diesmal von einer Biene, die sich auf vielen Gegenständen niederläßt, ohne vermutlich zu vergessen, daß sie gefangen ist und den Raum so schnell wie möglich wieder verlassen möchte. Nach meinen Beobachtungen sind unter den Fluginsekten die Bienen die intelligentesten und die Fliegen die dümmsten. Eine Fliege rast hundertmal an einer offenen Balkontür vorbei und erkennt nicht, daß sie durch die Tür entkommen könnte. Eine Biene hingegen gerät ein einziges Mal in die leichten Luftströme in der Nähe der Tür und ahnt ihre Chance. So ist es auch jetzt. Die Biene verliert das Interesse an den Gegenständen in meinem Zimmer und fliegt durch die nicht einmal ganz geöffnete Balkontür hinaus in die Freiheit.
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Die Wahrheit ist, daß ich Sandras Blumen bis jetzt nicht ein einziges Mal gegossen habe. Vermutlich sind viele von ihnen schon eingetrocknet. Das beste wird sein, ich ersetze die verdorrten Exemplare durch neue. Ich werde die Reste der abgestorbenen Blumen einpacken und in einem Blumengeschäft wieder auspacken und dazu sagen müssen: Geben Sie mir frische Exemplare dieser Blumen bitte – oder so ähnlich. Am Mittwoch nachmittag stecke ich die Schlüssel von Sandras Wohnung ein und mache mich auf den Weg. Die Menschen auf der Straße wirken heute wie übriggebliebene Comicfiguren. In einem Terrassencafé sitzt eine junge Frau mit schmutzigem T-Shirt, blauer Sonnenbrille und grünem Haar. Die Frau neben ihr trägt trotz der Hitze schwarze Ledersachen. Sie trinkt eine Flasche Milch in einem Zug halbleer und verstaut die Flasche dann wieder in einer Plastiktüte. Ein paar Jugendliche mit McDonald Kappen auf dem Kopf und Bierflaschen in der Hand taumeln eng an den Schaufenstern entlang und grölen: Im Himmel gibts kein Bier, drum trinken wir es hier. Neben dem Eingang des Gesundheitsamtes sind ein paar Edelstahlbänke aufgestellt worden. Ihr metallisches Grau und die eckige Form rufen in mir Ekelgefühle wach. Die Waschbetonplatten am Gesundheitsamt und die halbnackten, gegen sie gelehnten Männer passen plötzlich zusammen. An der Kreuzung Lindenstraße/Max-Beckmann-Straße steht ein Mann vor einem rechteckigen Stahlcontainer und verkauft Brathähnchen. Ich habe den Mann schon vorige Woche beobachtet. Täglich gegen fünfzehn Uhr fährt er in seinem Pkw vor und sucht für seinen Hähnchencontainer einen geeigneten Standplatz. Dann koppelt er den Container ab und parkt seinen Pkw ein paar Straßen weiter. Er öffnet die beiden vorderen Flügeltüren des Containers, und zum Vorschein kommen etwa achtzig ganze Hähnchen, fertig aufgespießt auf acht Drehspießen. Jetzt, am Spätnachmittag, verkauft er die meisten Hähnchen. Bis gegen 19.00 Uhr zieht starker Bratfettgeruch die Straßen hoch, gegen den offenbar niemand einschreitet. Gegen 19.30 Uhr schließt der Mann die Flügeltüren des Containers, bis er am nächsten Tag mit neuer Ladung zurückkehrt. Ich überquere die Kreuzung und biege in die Wupperstraße ein. Von fern sehe ich das rotbraune Haus, in dem Sandra wohnt. Ein junger Drogenabhängiger bleibt vor mir stehen und fragt nach dem Gesundheitsamt. Ich deute mit dem rechten Arm nach hinten und sage: Sie sehen doch die drei neuen Ekelstahlbänke, oder? Genau gegenüber befindet sich das Gesundheitsamt. Mit einem trüben Aufblick bedankt sich der Mann und zieht weiter.
In Sandras Wohnung öffne ich die Fenster und lasse den muffigen Geruch abziehen. Die Blumen befinden sich in alarmierendem Zustand. Die meisten von ihnen dürften nicht mehr zu retten sein. Dennoch fange ich sofort an zu gießen. Ich nehme mir vor, bis zu Sandras Rückkehr die Blumen jeden Tag zu wässern. Erst am letzten Tag werde ich entscheiden, welche Blumen ich durch neue ersetzen werde und welche nicht. Nein, so lange darf ich nicht warten. Dann wird Sandra sofort bemerken, daß ich ihre Blumen gegen neue ausgetauscht habe. Die wenigen Blumen, die ich mit Namen kenne, sind ein paar Geranien und Alpenveilchen, die noch halbwegs passabel aussehen. Im Badezimmer entdecke ich drei von Sandras Bildern. Wollte sie sie vor mir verstecken? Auf dem Weg hierher habe ich mir wieder Sorgen gemacht, wie ich mich Sandras Hobby gegenüber verhalten soll. Ich habe mir Gedanken gemacht, warum so viele absolut talentlose Menschen sich ausgerechnet der Kunst zuwenden. Morgenthalers tote Mutter nahm bis ins hohe Alter
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