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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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mir. Du wünschst dir nicht genug, du kaufst nicht schnell genug und du wirfst nicht schnell genug weg! Immer wieder brechen lange Konsumstockungen in dein Leben ein und trennen dich vom Denken der Mehrheit! Vermutlich hängt meine Nervosität auch mit meinen Schlafstörungen zusammen. Der Schlafmangel bringt tagsüber eine Stimmung hervor, in der ich manchmal möchte, daß mir jemand hilft. Aber dann bin ich froh, wenn es niemand versucht. Denn ich könnte nicht sagen, wobei mir zu helfen sei. Schon spüre ich wieder ein inneres Einsinken, ein zeitlupenartiges Umfallen, eine Auflösung meiner... meiner was? Ich kann (könnte) nicht sagen, was mich aufzulösen droht, und weil ich es nicht sagen kann, werde ich gerade noch ein bißchen weiter aufgelöst. Unentschlossen gehe ich in Richtung Hauptbahnhof. Ich muß unbedingt die Evangelische Akademie Sattlach anrufen und das Seminar zusagen. Außerdem muß ich auf einen Brief der Polizeifachschule in Hannover antworten. Der Direktor fragt an, ob ich einen Vortrag zum Thema Unruhenfrüherkennung, Gewaltdiagnostik und Sicherheitsprophylaxe halten würde. In einer Polizeifachschule habe ich noch nie einen Vortrag gehalten, ich will es im Grunde auch nicht. Sie wollen von dir wissen, wo und wann neue Unruhen ausbrechen. Als ob ich das wüßte! Aber ich werde den Vortrag halten. In gewisser Weise erregt mich die Anfrage. Unruhen, mit denen sogar die Polizei rechnet, treten mit Sicherheit auch ein. Darin liegt ein Indikator für die Richtigkeit meines apokalyptischen Ansatzes. Am Hansaplatz komme ich am Hochhaus der Humanitas-Versicherung vorbei. Dort, im Erdgeschoß, gut verborgen hinter einem Lamellen-Sichtschutz, sitzt mein ehemaliger Freund Henschel, der sich vor vielen Jahren aus verletzter Scham von mir abgewandt hat. Er ist Sachbearbeiter bei der Humanitas, seit mindestens zwanzig Jahren. Die Lamellen hinter der Scheibe seines Zimmers stehen günstig. Ich kann Henschel, während ich sehr langsam draußen vorübergehe, an seinem Schreibtisch sitzen sehen. Er blättert eine Akte durch und kommt niemals auf die Idee, daß ihn von draußen jemand anschaut, der ihn aus früheren Zeiten schätzt und in diesen Augenblicken seiner Jugend gedenkt. Das tue ich tatsächlich, heute sogar länger als sonst. Henschel hat vor mehr als zwanzig Jahren an einer Dissertation über das Anerkennungsproblem bei Hegel gearbeitet, mit der er bei Habermas promovieren wollte. Ich erinnere mich an seine Begeisterung, die fast immer so anfing: Ich muß meinen verehrten Vordenker Hegel kritisieren, weil er... Das klang eindrucksvoll und voller Zukunft, aber nach jahrelanger Arbeit verhedderte sich Henschel hoffnungslos in Hegels Metaphysik und Dialektik gleichzeitig. Er brach die Arbeit an der Dissertation ab und gab ein Jahr später sogar das Philosophiestudium auf. Aus der aufsteigenden Lebenslinie Hegel–Habermas–Henschel wurde das schlichte Eingeständnis Humanitas–Hansaplatz–Henschel, das mitzuteilen über seine Kräfte ging. Schon viel zu lange büßt er seine jugendlichen Höhenflüge hier in einem Erdgeschoß ab. Ich gedenke seines untergegangenen Übermuts und blicke dabei stumm und von hinten auf seinen reglosen Rücken.
    Es beginnt fast zärtlich zu tröpfeln, ich drücke mich dichter gegen die Hauswände. Im Schutz einer überdachten Straßenbahnhaltestelle sitzt eine Frau auf einer Plastikbank und schimpft vor sich hin. Die Frau trägt einen altertümlichen Hut, wie er in der Nachkriegszeit eine Weile Mode war. Er hat die Form eines Topfs, an beiden Seiten ragen zwei dunkle Federchen hoch und flattern im lauen Wind. Ich setze mich neben die Frau, um ihr Schimpfen zu verstehen. Aber es ist nicht möglich. Das Schimpfen bleibt unverständlich. Es liegt am Gebiß der Frau, das ihr beim Sprechen immer wieder nach vorne rutscht. Ich stehe auf und gehe an ein paar betäubten Häusern vorbei, von denen es im Bahnhofsviertel noch viele gibt. Von diesen Häusern ist nur das Erdgeschoß bewohnt beziehungsweise belebt; schon der erste Stock ist nur noch halb bewohnt, und vom zweiten Stock an aufwärts beginnt eine zunehmende Verrottung. In einer der letzten Nächte ist mir ein winziges Stück von einem Schneidezahn abgebrochen. Jetzt fahre ich mit der Zungenspitze immerzu über die Bruchstelle. Ich rutsche mehr und mehr in einen Tageszustand hinein, den ich nicht schätze. Es ist die Verlangsamung des äußeren Lebens bei gleichbleibender innerer Eile. Vermutlich ist heute einer jener

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