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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Gesangsunterricht und hoffte auf eine späte Karriere als Opernsängerin! Sogar meine eigene Mutter war nicht frei von solchen Verirrungen. Am Ende meiner Schulzeit hielt auch sie sich für eine große Malerin. Unsere Abiturklasse fuhr nach Amsterdam und besuchte das dortige Van-Gogh-Museum. Ich kaufte ein paar Postkarten mit den berühmtesten Van-Gogh-Bildern und schenkte sie einen Tag später meiner Mutter. Zwei der Bilder malte sie ab, erkannte aber, daß ihre Abbilder mit den Originalen nichts zu tun hatten. Zur Begründung sagte sie: Wenn ich mit dem Malen so früh angefangen hätte wie van Gogh, könnte ich heute genausogut malen wie er. Ein paar Jahre später glaubte sie, sie könnte ein Fernsehspiel schreiben. Ich schimpfte damals im stillen auf den Süddeutschen Rundfunk, der einen unseligen Schreibwettbewerb für »unsere älteren Mitbürger« ausgerufen hatte. Meine Mutter kam nicht über die erste Seite hinaus. Schon nach zwei Tagen übergab sie mir die Sache, ich setzte mich hin und schrieb für sie ein Fernsehspiel, das nicht für die Produktion ausgewählt wurde. Zum Glück, muß ich heute denken, sonst hätte sich Mutter auch noch für eine Dramatikerin gehalten. Aber plötzlich, ich weiß nicht wie, gehört Sandra für mich nicht mehr zu den Problemfällen. Im Gegenteil, ich liebe Sandra jetzt sogar wegen ihrer treuherzigen Versuche, eine Künstlerin zu werden.
    Ich kann nicht entscheiden, ob ich die Kakteen ebenfalls gießen soll oder nicht. Dafür werden die beiden halbhohen Staudengewächse reichlich mit Wasser versorgt. Nach einer halben Stunde schließe ich die Fenster, lasse die Rolläden herunter und berühre mit der Hand Sandras Kopfkissen. Ich hebe einen der Kissenzipfel in die Höhe und sehe Sandras Nachthemd, sorgfältig zusammengelegt wie das Nachthemd einer Siebenjährigen. Ich beuge mich über das Bett und atme den Geruch von Sandras Nachthemd ein, dann verlasse ich die Wohnung.
    Unten, auf der Straße, entdecke ich Herrn Bausback, den Postfeind, jedoch leider ein paar Sekunden zu spät. Kurz vorher hat er mich gesehen und kommt sofort auf mich zu.
    Stellen Sie sich vor, sagt er, ich habe an der Hauptpost gerade eine Ratte entlanghoppeln sehen!
    Nein!
    Doch! Und was für ein Riesending das war!
    Und Sie, was haben Sie gemacht?
    Ich bin der Ratte nachgelaufen, sagt Herr Bausback, weil ich sehen wollte, wohin sie verschwindet!
    Ist sie in den Schalterraum gelaufen?
    Soweit ist es noch nicht, sagt der Postfeind völlig ernst; sie ist unter einen riesigen Stein gekrochen.
    Nicht unintelligent, lobe ich die Ratte.
    Das finde ich auch, sagt Herr Bausback; ich habe eine Weile gewartet, ob sie wieder hervorkommen würde, aber sie tat mir den Gefallen leider nicht.
    Und jetzt?
    Morgen gehe ich wieder zur Hauptpost, aber diesmal mit Fotoapparat! sagt Bausback. Zum zweiten Mal nennt er den Grünstreifen um die Post herum das Rattengebiet. Er beschuldigt die Post der Begünstigung von Schädlingen und der Ausbreitung von Seuchen. Ich versuche, seine Erregung zu dämpfen, indem ich auf das Problem der Hitze aufmerksam mache.
    Man riecht ja schon die Kanalisation, sage ich, das zieht die Ratten an.
    Genau! Um so aufmerksamer müßte die Post sein!
    Werden Sie der Post Ihre Beweisfotos schicken?
    Das nützt nichts! ruft Bausback; die Post reagiert überhaupt nicht auf ihre Skandale. Ich werde zum Tagesanzeiger gehen und die Story verkaufen!
    Oh! mache ich bewundernd; dann muß die Post handeln?
    Dann fühlt sie sich in die Ecke gedrängt, sagt Bausback.
    Wie eine Ratte, sage ich.
    Genau, sagt Bausback und muß endlich kurz lachen.
    Viel Glück beim Tagesanzeiger!
    Danke! ruft Bausback und entfernt sich.
    Ohne Absicht bleibe ich eine Weile stehen und schaue ihm nach. Im Schaufenster einer Badezimmer-Boutique löst sich ein hinter der Scheibe befestigtes Plakat und liegt wenig später quer und unschön über den Auslagen. Schon überlege ich, ob das heruntergerutschte Plakat ein Hinweis für mein Leben sein soll, eine Erklärung, ein Fingerzeig oder eine Warnung, dieses oder jenes zu tun oder nicht zu tun. Wieso habe ich genau in den Augenblicken in das Schaufenster geschaut, als sich das Plakat löste? Ich muß meine Überempfänglichkeit für solche Details zurückdrängen. Aber wie? Ich betrachte im Schaufenster der Badeboutique die goldglänzenden Wasserhähne, die Blumenmuster auf den zierlichen Porzellanbecken, die zitronengelben Naturschwämme und empfinde die Fremdheit zwischen den Dingen und

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