Die Liebesbloedigkeit
Tage, an denen viele Menschen glauben, sie hätten vielleicht Krebs. Wenn ich mich nicht täusche, läßt wenigstens das Getröpfel wieder nach.
Es öffnet sich die Straßenschlucht, sichtbar wird ein großer Platz beziehungsweise ein unbebautes Gelände. In der Mitte des Platzes steht ein Autoscooter und eine Bratwursthütte, rechts davon ein Süßigkeitenstand, links eine Wurfbude. Ein paar fliegende Händler, Inder und Arbeitslose laufen herum. Ich merke, daß meine inneren Beschreibungen nicht ganz der Wahrheit entsprechen, mich aber unterhalten. Vermutlich gibt es drei Möglichkeiten des Alterns: die Verzerrung, die Erhabenheit und die Melancholie, von denen ich wechselnd Gebrauch mache. Eine etwa Dreizehnjährige stakt in Stöckelschuhen über den staubigen Platz. Zwei der Inder haben sich Blazer mit Goldknöpfen angeschafft, die sie hier spazierenführen. Am besten gefällt mir der Lautsprecher der Wurfbude. Er ist mit einem blauen Plastiksack zugehängt beziehungsweise überstülpt. Unter der Plastikhülle dringt Schlagermusik leicht verzerrt, das heißt in angemessener Falschheit, hervor. Tagesgähner vermischen sich unmerklich mit Abendgähnern. Noch immer ist mir der entscheidende Schlag gegen die Monotonie dieses Nachmittags nicht geglückt. Am Rand des Platzes sehe ich einen mit roten und grünen Neonstäben erleuchteten Eingang einer Nachtbar. In einem kleinen Schaukasten betrachte ich die im Sonnenlicht gewellten Fotos einiger Stripteasetänzerinnen. Ich bin ein bißchen melancholisch und deswegen für Sexualkitsch zugänglicher als sonst. Aus der noch immer blendenden Tageshelle trete ich in das Halbdunkel der Nachtbar. Über ein paar rote Teppiche gerate ich in den Bühnenraum. Schwere Rumbamusik dröhnt durch das kleine Zuschauerrund. Links und rechts von mir sitzen einige abgedunkelte Persönlichkeiten und warten auf die nächste Darbietung. Eine Empfangsdame weist mir ein Tischchen zu. Eine Bardame beugt sich so tief über mich herab, daß ich in ihrem Haar gleichzeitig Rauch und Parfüm riechen kann. In ihrem Ausschnitt schaukelt an einem Goldkettchen ein Tigerzahn aus Plastik. Zuerst einmal das Übliche? fragt sie mich, ich nicke und bin ein bißchen gespannt, was das Übliche ist. Der Raum verdunkelt sich, die Bühne wird hell. Im Lautsprecher wird Pippi Langstrumpf angekündigt. Draußen donnert eine Straßenbahn vorüber und erschüttert momentweise das ganze Haus. Halbnackte Frauen erscheinen und verschwinden zwischen Vorhängen. Es erregt mich ein bißchen, daß ich nicht weiß, was in den Séparées geschieht. Die Bardame stellt das Übliche vor mir ab, ein Bier und einen Cognac. Pippi Langstrumpf springt auf die Bühne. Sie ist fast nackt, hat gemalte Sommersprossen im Gesicht, trägt einen Schulranzen und Pippi-Langstrumpf-Zöpfchen. Sie umarmt den Kopf eines Pferdchens aus Pappmaché. In der Mitte der Bühne steht ein Pferdesattel mit Knauf. Pippi Langstrumpf, das Schulmädchen, zeigt seinen Traum, das Reiten. Pippi Langstrumpf steigt auf den Sattel, und zwar so, daß der Knauf seine Funktion als Penisnachbildung enthüllt. Pippi Langstrumpf setzt sich auf den Penisknauf und reitet los. Eine Weile geht es gut, dann merkt Pippi Langstrumpf, daß etwas nicht stimmt. Aber sie ist schon zu schwach, um das Pferd zu zügeln, das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Es dauert eine knappe Minute, dann stürzt Pippi Langstrumpf halb entzückt und halb ohnmächtig vom Pferdesattel, der bloß umgebogene Gummiknauf schnellt wieder hoch. Pippi Langstrumpf liegt stöhnend neben dem Sattel, Schluß, der Vorhang fällt, schütterer Beifall von etwa sieben Männern. Ich trinke die Bierflasche halbleer, dann gehe ich auf die Toilette. Im Vorraum mache ich einen Fehler und lese zwei der handgeschriebenen Zeilen, mit denen Männer die Toilettenwände vollgekritzelt haben: Bei den Jungen kommt es schnell, bei den Alten eventuell. Ich habe mir eingebildet, ich könnte hier meine Verwirrung über die Enderektion verlieren. Jetzt, nach dem Toilettenreim, kehrt der schon für verschwunden gehaltene Schreck zurück. Im Dunkel des Korridors zwischen Toilette und Zuschauerraum nehme ich eines der dort abgestellten Weingläser und verberge es unter meinem Sakko. Ich brauche keine Weingläser, ich habe genug davon. In angegriffenen Situationen hilft mir das Mitnehmen von kleinen oder nicht so kleinen Gegenständen, die inneren Übergriffe meiner Überforderung auszuhalten. Es ist mir klar, was mit mir los ist, nur hilft
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