Die Liebesbloedigkeit
mir die Klarheit nicht. Vor etwa vierzehn Tagen habe ich in einem anderen Lokal, durch dessen Räume ich nur hindurchgeschlendert bin, eine große weiße Stoffserviette mitgenommen. Sie liegt jetzt zu Hause bei mir neben dem Fernsehapparat, unbenutzt. Ich wische mir die Hände weiterhin mit Papiertaschentüchern ab, um die weiße Stoffserviette zu schonen. Mein linkes Knie schmerzt. Vielleicht brauche ich viel schneller, als ich denken mag, einen Gehstock. Es ist ganz leicht, ein Weinglas unter meinem Sakko zu verstecken. Ich kann das Glas mit der rechten Armbeuge einklemmen und mit der linken Hand einen Cognac trinken. Ich zahle bei der Bardame mit dem Tigerzahn im Ausschnitt, eine Minute später bin ich draußen. Ich empfinde Vergnügen dabei, während des Heimwegs darauf zu achten, nicht aus Versehen gegen eine Mauer oder gegen einen Pfosten zu prallen. Wenn die Verletzungsgefahr nicht so groß wäre, würde mich auch ein kleiner Unfall entzücken. Dann könnte ich mit eigenen Ohren hören, wie mein gläsernes Herz zerbirst. Damit ich schneller zu Hause bin, nehme ich die Abkürzung durch die Wiesengrundstraße und die Zellerstraße. Ich komme an der chemischen Reinigung BLITZ vorbei, in deren Schaufenster eine schöne elektrische Eisenbahnanlage zu sehen ist. Das heißt, so schön ist sie auch wieder nicht. Die Kanten des Tunnels sind abgestoßen, von den Tannenbäumen hat sich das Sägemehl teilweise gelöst und an den Sperrholz-Häuschen werden braune Leimstellen sichtbar. Auf einem kleinen Schildchen ist zu lesen, daß die Anlage 1500,– Euro kostet. Das ist ein viel zu hoher Preis für eine derartig ältliche Bastlerarbeit. Ich kann nicht widerstehen, mich eine Weile vor das Schaufenster zu stellen. Denn ich spekuliere darauf, daß der Besitzer der chemischen Reinigung, der vermutlich auch der Besitzer der Eisenbahnanlage ist, aus seinem Hinterzimmer hervortritt und die Anlage für mich einschaltet. Der Besitzer kann seinerseits nicht widerstehen, in mir einen Kaufinteressenten für seine Anlage zu vermuten. Genauso geschieht es. Schon eine Viertelminute später tritt der Mann nach vorne an den Rand der Anlage und läßt einen Personenzug und einen Güterzug gegenläufig zwei weite Schienenovale umfahren. Es ist ein starkes Bild, den Mann dicht neben mehreren Stapeln frisch gereinigter Hemden (links am Rand der Anlage) und mehreren Stapeln ebenfalls frisch gereinigter Kittel und Blusen (rechts der Anlage) stehen zu sehen und ihm dabei zuzuschauen, wie er bittend hofft, daß ich seinen schäbig gewordenen Kindertraum kaufe. Mir entgeht nicht, daß meine müde gewordene Ratlosigkeit in die Anlage und sogar in ihren Besitzer einfließt. Mein Frauenproblem springt auf eine der beiden Loks auf und läßt sich jetzt lustig im Oval herumfahren. Mein gequältes Ich spürt eine gewisse Erleichterung. Eine auf einer Lok und noch dazu in einem Schaufenster herumgefahrene Melancholie ist eben gleich etwas Appetitliches. Vermutlich springt irgendein Problem des Besitzers auf die andere Lok auf, und schon fahren zwei wahrscheinlich sehr verschiedene Männerwunden durch den Mief einer chemischen Reinigung und dürfen dabei momentweise vergessen, wie schwierig sie sind. Gleichzeitig wird mir der Mann hinter der Scheibe zunehmend unangenehm. Ich sehe seinem Gesicht an, wie sehr sich seine Vorstellung verfestigt, daß ich gleich seinen Laden betrete und die Anlage kaufe. Oder er kommt womöglich selbst auf die Straße heraus und bittet mich in sein Geschäft. Ich müßte ihm dann mühsam auseinandersetzen, daß die entlastende Wirkung der elektrischen Eisenbahn, wenn die Anlage erst einmal in meiner Wohnung steht, sofort verschwindet. Das würde der Mann vermutlich nicht begreifen. Schon seinem fürchterlichen Pullover sehe ich an, daß er denkt, eine elektrische Eisenbahn ist nichts weiter als eine elektrische Eisenbahn. In ein paar unbeobachteten Augenblicken (der Besitzer geht zur Theke zurück, weil er das Telefon abnehmen muß) bin ich verschwunden. Ich bedaure, daß ich die Entdeckung meines Verschwindens auf dem Gesicht des Mannes nicht beobachten kann. Von hier aus ist es nicht weit bis zu meiner Wohnung. Ich gehe in mein Arbeitszimmer und stelle das Weinglas ab. Undeutlich fühle ich, daß ich mich an diesem Nachmittag selbst erniedrigt habe. Ich kämpfe gegen dieses Gefühl an, indem ich am Telefon sowohl das Herbstseminar bei der Evangelischen Akademie als auch den Vortrag bei der Polizeifachschule zusage. Obwohl
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