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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Morgenthaler, die alte Mehlmotte, sagt sie nur. Wir lachen. Ich grüble, was geschehen soll, wenn ich künftig immer öfter nur noch eine Wackelsexualität zustande bringe. Judith berichtet von jungen Touristinnen mit einer tätowierten Rose auf der linken oder rechten Pobacke. Das hat es vor drei Jahren noch nicht gegeben, sagt Judith. Bis kurz vor neun Uhr bleiben wir im Bett. Im Grunde will auch ich nicht zu Morgenthaler, aber ich habe zugesagt. Im Prinzip weiß ich schon lange nicht mehr, wie man ohne Hilfsmittel (Theater, Kino, Seminar) eine halbe Nacht mit weitgehend belanglosen Menschen zubringen soll. Ich bin ohnehin immer öfter darüber erstaunt, daß meine Bekannten meine Bekannten sind. In Kürze werde ich sie wiedersehen.
    Ich erschrecke, als ich dreißig Minuten später unter Morgenthalers Gästen auch Bettina erblicke. Wie immer hat sie erheblich mehr Lebensdrang als Lebensfreude. Ich erinnere mich an ihre schönen Sommersprossen auf beiden Schultern. Frau Dr. Pfister, die Staubforscherin, ist auch da und winkt mir zu. Panik-Berater Dr. Ostwald sitzt in der Küche und trinkt Bier. Eine mir zum Glück unbekannte Frau redet viele Leute mit Schatzl an und wirft Flugküsse in die Räume. Morgenthaler hat in allen drei Zimmern die Möbel zusammengeschoben, so daß in der Mitte kleine Tanzflächen entstanden sind. Bisher wird nur im kleinen Fernsehzimmer getanzt. Ich sehe Bettina an, daß irgend etwas mit ihr nicht stimmt. Sie ist unruhig und sucht etwas zu deutlich den Kontakt zu mir. Dr. Blaul sagt zum Panik-Berater: »Es gehört nicht viel dazu, sich vor der ganzen Welt zu ekeln.« Vorhin, bei der Begrüßung, gab mir Bettina die Hand und ließ sie nicht frei, sondern bog die Hand zu sich hin. Plötzlich ging ihr auf, daß sie sich die Hand gegen die Brust drückte, dann lachte sie übertrieben und gab die Hand frei. Ich überlege, ob ich den Ekelreferenten auf die neue Hähnchenbraterei und auf die Ekelstahlbänke vor dem Gesundheitsamt und auf dem Flughafen aufmerksam machen soll. Ohnehin will ich Dr. Blaul schon länger fragen, wieviel neue Ekelquellen im öffentlichen Raum eigentlich erlaubt sind. Gibt es eine Verordnung über die zulässige Ekeldichte? Morgenthaler sagt, daß die meisten Empörten nicht gegen etwas Äußerliches, sondern gegen etwas Innerliches empört seien: gegen das Gefühl ihres Unpassendseins. Dieses Gefühl ruft Empörung hervor, sagt Morgenthaler, oft lebenslang. Das Problem ist, doziert er, daß die Panik dieser Leute kein Feindbild hat. Die Menschen wissen nicht, gegen wen oder was sie empört sind. Die Feindverlassenheit führt zu einem cholerischen Charakterbild beziehungsweise zu einem hilflosen Ressentiment. Die Partygäste stimmen Morgenthaler lebhaft zu. Ich höre, wie jemand mit den Zähnen an sein Bierglas anstößt. Ich vermeide, Platz zu nehmen, weil ich fürchte, Bettina wird sich zu mir setzen und mir eine Geschichte erzählen, die ich nicht hören will. Einem älteren Mann fällt das Handy in die Toilette. Er fischt das Ding wieder heraus und fönt es trocken, aber es funktioniert nicht mehr. Aus einem Zimmer tönt Blues-Musik, die mich an die Zeit erinnert, als ich Bettina kennenlernte. Sie war damals die Freundin eines Privatdozenten, der sie eines Abends etwas zu lange an einer Theke stehenließ, während er über Wittgensteins Privatsprachen-Argument redete. Ich stellte mich neben Bettina, unterhielt mich mit ihr und nahm sie dann mit nach Hause. Der Privatdozent hat erst zwei Tage später bemerkt, daß ihm Bettina abhanden gekommen war, was ihm jedoch nicht viel ausmachte, weil er mit Wittgensteins Privatsprachen-Argument eine andere Frau für sich hatte einnehmen können. Einige Jahre lang war es mir angenehm, daß sich Bettina um alles Geschlechtliche kümmerte. Wenn wir zusammen geschlafen hatten, lagerte sie sich zwischen meine Beine und nahm mein Geschlecht erneut in den Mund. Mit geschlossenen Augen lag sie da, ich kraulte ihr den Hinterkopf, oft schliefen wir dabei ein. Morgenthaler spricht über das plötzliche Ableben seiner Mutter. Es ist das Wort Ableben, das meinen inneren Text unterbricht. Wie wohltuend es ist, von einem selten gewordenen Wort in einen kurzen Stillstand versetzt zu werden! Leider hält die Besinnung nicht lange an. Es müßte mir möglich sein, das Fest jetzt schon zu verlassen, mich zu Hause auf meinen Balkon zu legen und in den Nachthimmel zu schauen. Aber leider würde ich dabei einschlafen, nach kurzer Zeit zu schnarchen

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