Die Liebesbloedigkeit
hervorgeht. Bettina ist jetzt neunundvierzig. In diesem Alter sollte ein Mensch nicht mehr so fundamental erschüttert werden. Immer wieder überrascht mich das Gefühl, Bettina könnte sich etwas antun. Der neue Liebesverlust ist vielleicht zuviel für sie. Übrigbleiben ist noch schlimmer als Verlassenwerden. Ich wundere mich, wie einfühlsam ich über Bettina denke.
Da sagt der Panik-Berater zu mir: Sie sind Ihr Problem auch noch nicht losgeworden, oder?
Wie sollte ich, antworte ich vorsichtig.
Darf ich Ihnen einen Rat geben?
Kostenlos?
Der Panik-Berater lacht.
Gebühren entstehen erst bei mir in der Praxis, sagt er.
Dann reden wir lieber hier, sage ich.
Sie wollen doch weder die eine noch die andere Frau opfern, stimmts?
Ganz recht, sage ich.
Wenn Sie das eingesehen haben, sollten Sie es aufgeben, Ihr Problem dennoch lösen zu wollen.
Und was soll ich statt dessen tun?
Ich könnte Ihnen helfen, Ihre Unruhe zu zerstreuen.
Und wie?
Ich könnte Ihnen ein paar Vorschläge machen. Es handelt sich um ein mehrstufiges Projekt. Sie können sich ja mal anhören, was ich auf Lager habe. Die erste Stunde ist gebührenfrei.
Na gut, sage ich, ich komme nächste Woche vorbei.
Der Panik-Berater deutet eine knappe Verbeugung vor mir an und verschwindet im Gewühl der Tanzenden. Es ärgert mich, daß er auf Klientenebene mit mir gesprochen hat und daß ich ihm brav geantwortet habe. Es ist 23.00 Uhr, Morgenthalers Fest ist auf seinem Höhepunkt. In allen drei Zimmern dröhnen die Geräte, sogar auf dem Flur wird getanzt. Ich ziehe meine Jacke an und gehe. Dr. Ostwald, die denkende Heuschrecke, höhne ich auf der Straße. Leider habe ich Magenschmerzen. Ich sehe eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm, die in raschem Tempo eine Straße überquert. Ich höre ihren gehetzten Atem, offenkundig ist sie auf der Flucht. Da erscheint ein Mann, der sie verfolgt. Die Frau drosselt ihr Tempo und blickt ihrem Verfolger entgegen. Mein Auftauchen kommt ihr wie eine Art Schutz vor. Sie schreit dem Mann entgegen: Ich hasse dich! Ich möchte gegen deine Tür spucken! Ich gehe langsamer und warte, bis die Frau in einer Seitenstraße verschwunden ist. Der Mann gibt seine Verfolgung auf und geht an mir vorbei. Ich will auf keinen Fall ein tragischer Mensch werden, denke ich. Ich betrete ein abgehalftertes Bistro und bestelle ein kaltes Cola gegen meine Magenschmerzen. Hinter mir sagt eine Frau zu einem Mann: Auch als Bratwurstverkäuferin mußt du heutzutage Englisch sprechen können. Der Mann hinter der Theke starrt mich an. Wenn ich zur falschen Zeit angeschaut werde, möchte ich sofort Indianer werden oder wenigstens meinen Namen verlieren. Draußen auf der Straße liegt eine plattgefahrene Taube. Jedes-mal, wenn wieder ein Auto kommt, möchte ich die Augen schließen. Statt dessen schaue ich jedesmal wieder hin. Meine Magenschmerzen lassen nach, ich rutsche in eine dankbare Stimmung. Der Mann, der die Frau mit dem Kind verfolgt hat, betritt das Bistro und bestellt ein Bier. Rasch wird die tote Taube ein Teil des Straßenbelags. Ich will mich ein bißchen empören, aber ich bin zu müde für eine Empörung. Aus dem Verfolger ist jetzt ein Biertrinker geworden. Ich will durch die Grünanlage der Post gehen. Den Colarest nehme ich mit, unterwegs trinke ich immer mal wieder einen Schluck. Viele Männer treiben sich in der Grünanlage herum. Sie bieten Frauen, Drogen und Pornos an, ich will nichts davon. Obwohl es ringsum Häuser, Bars, Straßen und Autos gibt, habe ich das Gefühl, durch eine unbelebte Wildnis hindurchzugehen. Es erregt mich ein bißchen, daß hinter den Fenstern so vieles geschieht. Gern würde ich die Leute bitten, in ihre Zimmer hineinsehen zu dürfen. Mein Ziel ist die lange Mauer des Postamts, an der die Ratten entlanggehen, von denen mir der Postfeind erzählt hat. Es ist unklar, warum mir schon wieder Bettina einfällt. Oft stellte sie sich nachts auf den Balkon und fing an zu weinen. Ich saß in der Tiefe des Zimmers und war erschrocken. Bettina zwang mich, nach einer Weile zu ihr auf den Balkon hinauszukommen und sie zur Rückkehr ins Zimmer zu bewegen. Eine Weile reagierte sie nicht und weinte weiter in das Dunkel hinaus. Ich überlegte, welche unserer Nachbarn das Weinen hören würden und welche nicht. Erst als ich Bettina zuflüsterte, Frau Fehser (die über uns wohnte) steht längst auf ihrem Balkon und hört dein Weinen mit, kam sie zurück ins Zimmer. Schon nach einer knappen Minute sehe ich die
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