Die Liebesbloedigkeit
damals über diese absurde und doch lebensnahe Idee, aber eine Nacht später hatte ich einen Traum, der mich erstmals vor Bettina warnte. Ich lag mit ihr in unserem Ehebett, ich war, wie so oft, in ihr Geschlecht vertieft, das im Traum ein wenig zu groß und zu fest geworden war, was mich schon während des Traums störte, ohne daß ich hätte sagen oder denken können, was das Störende war. Ich wunderte mich, wie genau die leichte Vorwölbung von Bettinas Geschlecht in meinen Mundinnenraum hineinpaßte, und daß es mir nicht gelang, den Mund zu schließen, auch nicht für Augenblicke. Einmal schlug ich die Augen auf und sah, daß es nicht Bettinas Geschlecht war, was mir den Mund füllte, sondern eine harte, porzellanweiße Schnabeltasse. Ich war auch nicht mit Bettina im Bett, sondern ich lag allein im Krankenhaus, in der Abteilung Verbeißungen, Ärzte standen um mich herum und schauten mich ratlos an.
Jetzt kommt Bettina auf mich zu, wir tanzen miteinander, wie wir immer miteinander getanzt haben, das heißt, wir drücken die Vorderseiten unserer Körper dicht gegeneinander und machen nur kleine Schritte. Ich möchte fragen, warum sie nicht mit ihrem Freund da ist, den sie doch in Kürze heiraten will, aber ich verkneife mir die Neugierde. Bettina schlägt die Arme um meinen Hals, ich umfasse ihre Hüfte und schiebe meine rechte Hand unter ihren Pullover. Dann macht Bettina ein Geständnis: Ihr Freund hat sie verlassen. Sie sagt es kühl und spröde und kommentiert die Nachricht nicht. Wie lange hast du ihn gekannt? frage ich. Drei Jahre, sagt Bettina. Hat er einen Grund genannt, warum er sich zurückzieht? Nein, sagt Bettina. Es ist angenehm, mit Bettina zu tanzen, wir bewegen uns jetzt wie Geschwister, Geschwister des Scheiterns, die wir einmal waren oder vielleicht immer noch sind. Mir fällt ein, daß auch ich damals drei Jahre gebraucht habe, ehe unser (wie soll ich sagen) zu dichtes körperliches Glück langsam in sein Gegenteil umschlug. Nur mit Widerstand erinnere ich mich, daß ich mich damals gegen meinen Willen von Bettina zurückzog, als ich mit ihrer Sekretion nicht mehr fertig wurde. An diesem Punkt scheint auch Bettinas Freund gescheitert zu sein, ohne es Bettina sagen zu können, genausowenig wie ich damals. Ich kann (könnte) den Grund auch heute nicht aussprechen, im Gegenteil, er ist in die Geheimgeschichte unserer beider Scham eingewandert und läßt nicht die kleinste Verständigung über sich zu. Erneut lähmt mich die Entdeckung, daß der Kern der Intimität dem Menschen (vielleicht) feindlich gesonnen ist. Ich bin jemand, der Bettinas Körper und also auch die Gründe kennt, warum man schließlich vor diesem flieht, und ich bin jemand, der diese Gründe geheimhalten muß, weil andernfalls die Scham ins Unermeßliche wachsen müßte. Denn wenn die wahren Dimensionen der Scham bekannt würden, müßte sich die Menschenwelt in ein Hospital der Nachsicht verwandeln, wozu ihr jegliche Fähigkeit abgeht. Der Blues ist zu Ende, wir lösen uns schweigend, Bettina sucht ihr Glas, plötzlich stehe ich allein da und habe nichts dagegen.
Ein Satz des Panik-Beraters Dr. Ostwald dringt zu mir herüber: Weil die Probleme der Menschen nicht gelöst werden können, müssen sich die Menschen von ihren Problemen abwenden wie von schlechten Gewohnheiten.
Ich halte den Satz für unsinnig/unausgegoren/töricht, aber er zieht mich auch an. Mit einem Auge sehe ich, daß Bettina erneut mit dem jungen Mann von vorhin die Tanzfläche betritt. Ich wende mich dem Panik-Berater zu, der mit Herrn Mannschott, dem Alkohol-Sekretär der Turbinenfabrik Schnellinger, über Fremdheit und Alkohol redet. Mannschott behauptet, die Leute trinken so lange, bis sie sich als Fremde fühlen. Nein, sagt Dr. Ostwald, die Leute fühlen sich schon vorher fremd, sie trinken so lange, bis sie sich als Fremde endlich bekannt vorkommen. Nein, sagt der Alkohol-Sekretär, die Fremdheit ist in jedem Falle resistent, die Leute trinken, damit ihnen die Empörung gegen die Fremdheit geläufig wird. Niemand kann sich daran gewöhnen, daß Empörung etwas Natürliches sein soll. Natürlich wäre nur ein nichtempörtes Leben, verstehen Sie?
Der Panik-Berater schweigt und überlegt und schaut mich dabei an. Der Alkohol-Sekretär geht in die Küche und holt sich eine neue Flasche Bier. Ich betrachte die wild tanzende Bettina. Sie hüpft und springt über die Einsamkeitsklippen. Es ist möglich, daß ihr Bewegungsdrang aus reiner Verzweiflung
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