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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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anfangen und die mir unangenehme Aufmerksamkeit meiner Nachbarn erregen. Statt dessen beschleicht mich das Gefühl, daß alles, was lebt, nicht wahr ist, radikal alles ist radikal unwahr. Wir alle leben in der Apokalypse einer nicht möglichen Wahrheit. In allen Büros, Wohnungen, Theatern, Kinos, Schulen, Universitäten und Kantinen werden Teilstücke einer umfassenden Unwahrheit hervorgebracht, die niemand ausdrücken kann, auch ich nicht. Ich schaue umher und hoffe, irgendwer (außer Bettina) wird mich aus meiner inneren Verschraubung erlösen. Bettina tanzt mit einem älteren Mann, offenbar bin ich aus der Schußlinie. Der Postfeind kommt auf mich zu, er ist gut gelaunt, er fragt, ob er mir ein Glas Wein bringen darf, ich bin erstaunt und lasse mir gern ein Glas Wein bringen. Dabei ahne ich schon, was er dafür haben möchte: daß ich ihn morgen oder übermorgen auf die Post begleite, was ich ablehnen werde. Von Morgenthaler weiß ich, daß der Postfeind inzwischen dazu übergegangen ist, in einzelnen Postämtern zu klauen. Auf andere Weise läßt sich sein Affekt gegen die Post nicht mehr bearbeiten. Er klaut Klebebandrollen, Briefumschläge, Kordel, Büroklammern, Scheren. Ein Detektiv wird ihn demnächst am Ärmel packen, ihn beiseite führen und ihm Hausverbot auf allen Postämtern erteilen. Wenn man ihn danach noch einmal beim Klauen erwischt, wird man die Polizei verständigen. Jetzt aber kommt der Postfeind mit einem frischen Glas Weißwein auf mich zu.
    Stellen Sie sich vor, sagt er und übergibt mir das Weinglas, ich habe ein unübertreffliches Kafka-Zitat gefunden; wollen Sie es hören?
    Nur zu, sage ich.
    Kafka hat in seinem Tagebuch, sagt Herr Bausback, die Post ein Amt ohne Ehrgeiz genannt!
    Der Postfeind lacht und krümmt dabei seinen begeisterten Oberkörper nach vorne.
    Wie finden Sie das?! ruft Bausback zweimal; kürzer und schärfer kann man es nicht sagen, oder?
    Absolut, sage ich.
    Das Zitat wird die Post fertigmachen, sagt der Postfeind lachend.
    Unbedingt, sage ich.
    Nach diesem Faustschlag von Kafka ist die Post endgültig erledigt, ruft Bausback aus.
    Ein Faustschlag von Kafka! Ich drehe mein Gesicht weg, damit Bausback mein mühsam unterdrücktes Lachen nicht bemerkt. Dabei hat sich Bausback schon selber von mir abgewandt, um der Staubforscherin zu sagen, was Kafka über die Post gedacht hat.
    Ich schaue mir die Frauen an und überlege, ob ich die eine oder andere zum Tanzen auffordern soll. Bettina tanzt immer noch mit dem älteren Mann. Dabei weiß ich, daß Bettina mit älteren Männern nicht wirklich etwas anfangen kann, mich selbst eingeschlossen. Mit mir macht sie nur deshalb eine Ausnahme, weil sie das in mir abgelagerte Wissen von unserer einstigen Vertrautheit noch immer schätzt. Ich frage mich, ob Bettina möchte, daß am Ende des Abends jeder von ihrer Schwermut weiß, oder eher nicht. Ihre momentane Aufgedrehtheit deutet darauf hin, daß sie ihre Melancholie vorerst geheimhalten möchte.
    Morgenthaler steuert erneut auf mich zu. Die meisten meiner Besucher sind Zivilisationsempörte, sagt er; sie beklagen sich über zuviel Lärm, über schlechte Luft, schlechtes Essen und zu viele Allergien! Die meisten Empörungen dieser Art kann ich mit einfachen kommunikativen Akten erledigen; ich telefoniere mit XY oder schicke ein Fax an YZ, und die Sache erledigt sich!
    Es gelingt mir, mich der Staubforscherin Dr. Pfister zuzuwenden, die einer älteren Frau gerade rät, in Zukunft keinen Körperpuder mehr zu verwenden.
    Warum nicht?
    Weil sich der Puder nach einiger Zeit in Körperstaub verwandelt! sagt Frau Dr. Pfister.
    Was? ruft die andere Frau aus.
    Ich schalte mich ein und sage: Ich hatte kürzlich sogar das Gefühl, daß sich meine Empfindungen in Staub verwandeln.
    Sehr interessant! sagt Frau Dr. Pfister; wobei ist dieses Gefühl entstanden?
    Ich stand vor einer Schaufensterscheibe und habe dabei zugeschaut, wie eine elektrische Eisenbahn im Kreis herumfuhr, sage ich.
    Ach! macht Frau Dr. Pfister, das müssen Sie mir genauer erklären!
    Ich erkläre die Verwandlung, so gut ich kann, und betrachte dabei erneut Bettina, die jetzt einen jüngeren Tanzpartner hat. Sie redet unablässig auf ihn ein, kein gutes Zeichen. Mir fällt eine ihrer Ideen ein, die sie vor fünfundzwanzig Jahren hatte: Beischlaf-Häuschen in der Stadt. An belebten Knotenpunkten sollten kleine Beischlaf-Häuschen aufgestellt werden für Paare, die ein körperliches Bedürfnis nicht aufschieben wollen. Ich lachte

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