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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ersten Ratten an der Mauer des Postamtes entlanghoppeln. Mir gefallen die putzigen Tiere, die außer mir niemand beachtet. Ich suche mir eine halbwegs passabel angeleuchtete Bank und betrachte die Geschäftigkeit der Ratten. Offenkundig sind sie auf Nahrungssuche. Obwohl sie mißtrauisch sind, kommen sie nahe an mich heran. Es fesselt mich, ihren lauernden Lebensstil zu betrachten. Am auffälligsten ist das Dauerzittern ihrer Schnauze. Meine Magenschmerzen sind verschwunden. Ich werfe meine Colabüchse in die Nähe der Tiere. Die Dose rollt einen halben Meter vor sich hin und bleibt dann liegen. Ein bißchen Cola fließt aus der Dosenöffnung heraus. Zwei Ratten nähern sich der Büchse und vergewissern sich, daß der vor ihnen liegende Gegenstand leblos ist. Auf Anhieb lecken sie das ausgeflossene Cola auf. Es ist, als hätten sie die Apokalypse schon hinter sich.

11
    Seit Jahren sehe ich einen Frührentner, der mit einer langen Kneifzange in die Öffnungen der Glascontainer hineingreift und nach Flaschen sucht, die er als Pfandflaschen wieder verkaufen kann. Er ist ein einsamer, geringfügig verkommener Mann, der sich nicht (mehr) dafür interessiert, daß eine schräge Erscheinung aus ihm geworden ist und weiter wird (zu kleiner Hut, zu weite Hosen, zu ungepflegtes Haar). Das Sonderbare ist, daß ich den Mann neuerdings grüße. Ich stürze ihn in ein Grübeln darüber, warum er von einem Fremden, an dem er bisher anstandslos vorbeigekommen ist, plötzlich beachtet wird. Ich weiß es auch nicht, ich habe nur ein paar Spekulationen. Eine davon ist: Ich möchte auch jemand sein, der keine wichtigen Entscheidungen mehr zu treffen hat. In Kürze kommt Sandra zurück. Ihr Zug trifft um 17.02 Uhr ein, ich bin auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Von Sandras Blumen hat sich nur eine einzige (ich weiß ihren Namen immer noch nicht) nicht wieder erholt. Ich habe überlegt, ob ich sie durch eine neue ersetzen soll, aber dann fand ich, daß ein verdorbener Blumenstock eine vertretbare Schwundquote ist. Auch eine ältere Frau grüße ich neuerdings. Ich habe einmal von ihr gehört, daß sie in ihrer Jugend Schauspielerin gewesen ist. Jetzt, im Sommer, läuft sie in einer Kittelschürze und Hausschuhen herum. In den Bäumen des Viertels siedeln sich Papageien an. Es sind kompakte, grüngefederte Vögel mit einem roten Strich über dem Kopf. Wenn sie schwarmweise einen Baum verlassen, bleiben die Leute auf der Straße stehen und rufen aus: Unglaublich! Unfaßbar! Unmöglich! Es muß ein Papageienschwarm her, damit die Leute das Leben sonderbar finden. Mir ist flau zumute. Ich fürchte mich davor, daß mich Sandra schon im Bahnhof fragen wird, ob ich es mir überlegt habe. Ihre Stimme wird ein bißchen angestrengt lustig klingen, weil sie meine bisherige Zurückhaltung für ein lächerliches Theater hält, das mit meiner Entscheidung aus der Welt verschwunden sein wird. In Wahrheit kann ich Sandras Angebot nicht einmal erwähnen. Ich muß hoffen, daß sie es nicht ganz ernst gemeint und vielleicht vergessen hat. Ich sehe ein großes Geschäft, auf dessen Schaufenstern zweimal das Wort INSOLVENZVERKAUF aufgesprüht ist. Verkauft werden Gartenleuchten, Gummischuhe, Espressomaschinen, Motorradhelme, Alustühle, Hochdruckreiniger, Staubsauger. Ich wundere mich, daß auch stark reduzierte Preise die Waren nicht begehrlicher machen. Im Gegenteil, es hebt die Stimmung, an immer schwerer verkäuflichen Gegenständen vorüberzugehen. Sogar meine Flauheit läßt nach, weil ich sie an überflüssigen Gummischuhen und Espressomaschinen vorbeiführe.
    Der Intercity gleitet pünktlich in die Bahnhofshalle. Sandra steigt als eine der ersten Fahrgäste aus. Sie stellt ihren Koffer ab, damit sie mich besser umarmen kann. Offenbar hat sie es eilig. Ich bin froh, daß ich wieder hier bin, sagt sie. Mir fällt keine Begrüßungsformel ein, die gleichzeitig frisch, schlicht und unpathetisch ist. Ich muß sofort etwas essen und ein Glas Sekt trinken, sagt Sandra, mein Blutzuckerspiegel ist ganz unten. Ich nehme ihren Koffer und sage: In der Bahnhofsstraße gibt es eine große Bar. Gut, sagt Sandra und hängt sich bei mir ein. Langsam und stöhnend geht sie neben mir her. Die Bar ist laut und überfüllt. An allen Wänden stehen und hängen Fernsehapparate, Musikautomaten und Spielgeräte. Bestellst du für mich ein Baguette und ein Glas Prosecco, sagt Sandra, ich muß sofort aufs Klo. Es gibt nur einen einzigen Kellner, der mit aufgerecktem Kinn und

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