Die Liebesbloedigkeit
zusammengezogenen Schultern gegen die Überfüllung kämpft. Ich stehe genau unter einem Fernsehapparat, in dem ein Boxkampf läuft. Ich betrachte die Leute, die knapp über mich hinweg in den Fernsehapparat schauen. Sandra kommt zurück. Hast du schon bestellt? fragt sie. Der Kellner hat uns noch nicht einmal bemerkt, sage ich. Oh Gott, macht Sandra, ich falle gleich um. Sollen wir nicht doch wieder gehen? frage ich. Ich bin zu schwach, sagt Sandra. Dann schimpft sie über ihre Schwester. Ich hätte es keinen Tag länger bei ihr ausgehalten. Sie ist ganz eigentümlich geworden, genau wie unsere Mutter. Ich war total verblüfft. Immer wieder habe ich sie angestarrt und gedacht: Da sitzt unsere schreckliche Mutter, ich muß sofort den Raum verlassen. Sogar ihre Angewohnheiten hat sie übernommen. Zum Beispiel legt sie mehrere Tischdecken übereinander auf den Tisch. Man kann kein Glas mehr abstellen, weil die Oberfläche durch die vielen Tischdecken zu weich ist. Ich habe zu ihr gesagt: Diese vielen Tischdecken haben wir doch schon bei unserer Mutter zu Hause nicht verstanden, warum machst du das jetzt nach?
Ich bin etwas verwirrt, fühle mich aber besser als noch vor einer halben Stunde. Sandra redet, als hätte sie ihren Heiratsantrag vergessen. Der Kellner nähert sich uns, aber es ist nicht sicher, ob er uns auch bedienen wird. Es ist überhaupt kein Wunder, daß meiner Schwester der Mann weggelaufen ist, sagt Sandra. Der Kellner streift am Tisch nebenan ein Glas Wein, das Glas fällt um, der Wein ergießt sich über meine Hose. Der Kellner entschuldigt sich und geht weiter. Sandra zieht die Nase hoch und sagt: Meine Schwester kann den Geruch ihrer eigenen Kacke nicht ertragen! Wenn sie auf dem Klo sitzt, spült sie ununterbrochen in kurzen Abständen, weil sie das kleinste bißchen Geruch nicht aushält! Aber sie rennt alle vierzehn Tage in die Disco! Mit sechsunddreißig! Einmal war ich dabei, es war fürchterlich, mein Gott, wie sonderbar ist das alles, sagt Sandra.
Der Alkohol in meiner Hose trocknet ein, wir lachen. Der Kellner erscheint mit einem gemischten Salat und sucht den Gast, der ihn bestellt hat. Geben Sie mir den Salat, sagt Sandra. Der Kellner gehorcht und entschuldigt erneut sein Mißgeschick, bezahlen müssen wir den Salat nicht. Bringen Sie mir sofort ein Glas Sekt, sagt Sandra, dann ist alles wieder gut. Wird gemacht, sagt der Kellner. Diesmal hält er sein Versprechen. Zwei Minuten später bringt er zwei Gläser Prosecco. Sandra macht sich über den Salat her und trinkt ihr Glas leer. Der Boxkampf im Fernsehgerät über uns endet mit einem K.o. Das Publikum im Gerät bricht in Jubel und Geschrei aus, die Zuschauer im Lokal wenden sich nur stumm ab. Mit den Leuten geschieht nichts, sie sehen aus wie von gestern übriggeblieben. Sandra vertilgt den Salat und greift nach zwei Scheiben Brot, die am Nebentisch übriggeblieben sind. Soll ich deine Hose bei mir in die Waschmaschine stecken? fragt Sandra. Das ist nicht nötig, antworte ich, es sind nur ein paar kleine Flecken übriggeblieben. Sandra lacht. Es geht mir wieder besser, Gott sei Dank, sagt sie. Du kannst meinen Prosecco auch haben, willst du? Die Hälfte, sagt Sandra und nimmt mein Glas. Bleibst du heute nacht bei mir? fragt sie. Willst du? Ja, sagt sie. Sandra schiebt die leere Salatschüssel zurück. Wir stehen auf und gehen. An der Theke lehnt ein dicker Mann, auf dessen Jacke die Worte ATHLETIC DEPARTMENT aufgenäht sind. Es ist nicht komisch, es sieht nur so aus. Unterwegs kaufen wir eine Flasche Bordeaux, ein paar Oliven, etwas Käse, eine kleine Salami, ein halbes Pfund Butter, ein Brot. In der Nähe des Flußufers bleibt Sandra stehen, damit sie den Sonnenuntergang besser anschauen kann. Das Licht bricht brockenartig, wie heruntergewürfelt, zwischen den Wolken hervor und stürzt hinab in die Straßenschluchten; es färbt den Fluß grün, die Brücke dunkelblau und die Häuser sandgelb. Ich denke an Sandras wunderbare Kniekehlen und an Judiths ebenso wunderbare Hinternfalte, ich kann weder auf das eine noch auf das andere verzichten. Auch ich werde, wie alle anderen, sehenden Auges auf eine Katastrophe zugehen, etwas anderes ist dem Menschen nicht möglich. Sandra seufzt und faßt mich an. Wenig später, bei ihr in der Wohnung, lobt Sandra meine fürsorgerische Tätigkeit für die Blumen. Sie steckt meine alkoholisierte Hose jetzt doch in die Waschmaschine. Ich laufe in Unterwäsche und Socken umher und schalte den
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