Die Liebesbloedigkeit
vor, sagt er, was ich heute morgen entdeckt habe!
Ich schaue ihn bloß an.
Ich habe eine Briefträgerin gesehen, die in ihrem Postwagen auch ihren Einkauf herumgefahren hat! Auf den Briefen lag Käse, Brot, Butter und Obst! Ich habe deutlich gesehen, daß die Briefe dadurch fleckig wurden! Wie finden Sie das?!
Ich versuche, ihn zu beruhigen, es gelingt mir nicht. Ich erhebe mich und verlasse mit ihm die Grünanlage, vielleicht hilft ihm das; aber es hilft ihm nicht.
Es ist mir gelungen, die beschmutzten Briefe zu fotografieren, sagt er und ist ein bißchen erregt dabei.
Zum ersten Mal überlege ich, ob der Postfeind vielleicht verrückt geworden ist. Es fällt mir auf, daß ihn meine Sätze nicht mehr erreichen. Ich kann sagen, was ich will, er lebt in einer hart gewordenen Wahnwelt, die ich von außen nicht mehr durchstoßen kann. Am Friedensplatz hebt er den linken Arm und biegt in die Richard-Wagner-Straße ein. Gegen meine Gewohnheit hebe ich ebenfalls den Arm und winke Herrn Bausback nach. Es ist ein bißchen so, als würde ich mich endgültig von ihm verabschieden, was er nicht bemerkt. Auf dem Heimweg gestehe ich mir ein, daß es mich gleichgültig ließe, wenn der Postfeind demnächst in eine Anstalt eingeliefert würde. Es ist, als würden gewisse Teile der Welt vor mir in ein Flüstern verfallen, für das ich mich nicht mehr interessiere. Ja, es ist sogar so, als dürfte ich mir jetzt endlich eingestehen, daß mich dieses Flüstern nie interessiert hat. Aber warum quäle ich mich dann so sehr mit der Frage, mit welcher Frau ich zusammenleben möchte? Vermutlich will ich nur, daß mein Rückzug von wenigstens einem Menschen für gut befunden und von ihm geteilt wird. Es ist mir deswegen recht, daß Judith am Abend anruft und fragt, ob ich mit ihr ins Kino gehe. Es ist ein Film über Johann Sebastian Bach, sagt Judith, wahrscheinlich ist der Film schlecht, aber ich will ihn trotzdem sehen. Du kannst hingehen, wohin du willst, sage ich, ich komme mit. Judith lacht. Ich möchte in einem dunklen Kino eineinhalb Stunden lang deinen Geruch einatmen, sage ich. An diesem Abend geschieht ein Unglück, von dem ich erst einen Tag später erfahre. Sandra hat mich mit Judith gesehen. Sie war nach dem Ende ihres Kursabends mit zwei Amateurmalerinnen unterwegs, und dabei ist es passiert. Ich kann von Glück reden, daß Sandra nicht allein war, sonst hätte sie mich unmittelbar nach der Entdeckung »gestellt« (das ist Sandras Wort) und Aufklärung verlangt. Ich kann, zur Rede gestellt, nicht lange überlegen und erkläre: Die Frau, mit der du mich gesehen hast, ist eine Teilnehmerin meines letzten Seminars in der Schweiz.
Sandra stutzt und schweigt.
Ich greife nach dem erstbesten apokalyptischen Bildungsfetzen und sage: Die Frau will Privatunterricht auf einem Gebiet der Apokalypse, das während des Seminars von mir nur kurz gestreift worden ist.
Auf welchem Gebiet bitte? fragt Sandra.
Es ist die christliche Apokalypse, antworte ich unerträglich seriös, sozusagen das Urbild aller Apokalypsen, die Offenbarung des Johannes.
Worum geht es in dieser Offenbarung? fragt Sandra.
Die Offenbarung des Johannes ist eine Beschreibung vom Ende der Welt, sage ich. Alles Irdische geht seiner Vernichtung entgegen, und zwar auf ganz fürchterliche Art, die Menschen sind krank oder verrückt oder beides, an allen Grenzen herrscht Krieg, die Frauen sind oder werden unfruchtbar, auch in der Erde wächst nichts mehr. Von Tag zu Tag werden die Verhältnisse katastrophaler, aber dann, wenn das Leben praktisch unlebbar geworden ist, trifft Gott ein und schafft eine neue Welt, doziere ich.
Sandra hört zu und ist mißtrauisch.
Sogar die Gräber öffnen sich, sage ich, die Toten treten heraus und müssen sich vor Gott verantworten, und Gott urteilt, ob die Toten in der neuen, von ihm geschaffenen Welt leben dürfen oder ob sie mit der alten Welt untergehen müssen. Wer Glück hat und von Gott auserwählt wird, darf sein künftiges Leben unter den Seligen zubringen, zusammen mit Gott, der mitten unter den Auserwählten leben wird, für immer.
Warum hast du mir davon nie etwas erzählt? fragt Sandra.
Weil dich die Apokalypse nicht interessiert, das hast du immer wieder gesagt.
Und die Frau, diese Seminarteilnehmerin, interessiert die sich für Apokalypse?
Sogar sehr, antworte ich hilflos.
Was heißt sogar sehr?
Sie will die Offenbarung des Johannes komplett kennenlernen.
Was heißt das?
Ich erläutere ihr den Text, sage
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