Die Liebesbloedigkeit
Fernsehapparat an. Im Zweiten Programm läuft eine Schlagerparade. Noch lieber als alternde Nachrichtensprecher sehe ich alternde Schlagersänger. Der weißhaarige Roger Whittaker tritt singend von links ins Bild. Er schaut auf die Showtreppe herunter, damit er nicht stolpert, und singt dabei: Wir sind jung, für immer jung. Ich sehe und höre, wie er seine vernutzte Stimme, sein vernutztes Gesicht und sein vernutztes Lächeln noch einmal und noch einmal einsetzt. Ich bewundere ihn ein bißchen, weil er seinen Untergang hingenommen hat, vielleicht ohne es zu wissen. Zwischendurch schaue ich Sandra dabei zu, wie sie ihren Koffer auspackt und dies und das mit in die Waschmaschine steckt. Ich freue mich, sagt sie, daß ich nächste Woche wieder zum Malkurs gehe. reiche ihr ein Glas Rotwein. Noch einmal beschimpft sie ihre Schwester. Gegen halb zehn gehen wir ins Bett. Das Wiedersehen mit Sandras gemütlicher Unterwäsche amüsiert mich, was ich mir nicht anmerken lasse. Ich umarme sie und ziehe sie im Halbdunkel an mich heran und fremdle dabei ein bißchen. Die unendliche sexuelle Wiederholung treibt in mir eine gewisse Onkelhaftigkeit hervor, die ich nicht an mir mag und die ich trotzdem beobachten muß. Ein bißchen komme ich mir vor wie ein alternder Schlagersänger: Ich sehe und höre meine Klischees und kann ihnen nicht entkommen. Redselig liege ich in Sandras Bett, fasse ihr unter das Nachthemd und werde still und heimlich von meiner eigenen Reproduktion erschlagen. Weil ich bereits liege, kann niemand sehen, wie ich langsam umsinke. Sandra bemerkt meine Gespaltenheit vermutlich nicht, was mir recht ist. Sandra möchte, daß alles, was geschieht, ihr seit langer Zeit vertraut ist. Die Übergeläufigkeit, die mir zu schaffen macht, ist für sie ein Zeichen höchster Seriosität. Deswegen stört sie sich auch nicht am Geräusch der Waschmaschine, das aus der Küche zu uns dringt. Ich stehe nicht auf und schließe nicht die Schlafzimmertür, um Sandra nicht auf die Idee zu bringen, es könnte irgend etwas geben, was mich beeinträchtigt. Statt dessen empfinde ich im Hin- und-her-Orgeln der Waschmaschinentrommel jetzt sogar eine kränkende Analogie zum Geräusch des Beischlafs, dem wir uns gleich hingeben werden. Ich sehe auf Sandra hinab, deren herausfordernde Nacktheit mich berührt. Wie so oft lähmt mich das Gefühl, ich sei der einzige, der von einer erträglicheren Wahrheit weiß. Leider ist niemand da, der meine Überempfindlichkeit bemerkt und lächerlich findet. Plötzlich (und zum ersten Mal) beglückt mich der Gedanke, nicht deine beiden Frauen und nicht die Sexualität sind das Problem, sondern allein die Narrheiten deines Kopfes. Das Schuldgefühl, das im Gefolge der Einsicht frei wird, macht mich wieder demütig und empfänglich. Dankbar vergrabe ich mein Gesicht zwischen Sandras Brüsten und lösche das Licht, damit niemand meine Schuld sehe.
Zwei Tage später, morgens um elf, habe ich die erste Therapiestunde bei Panik-Berater Dr. Ostwald. Er ist ein bißchen aufgedreht und redet zuviel, jedenfalls zunächst. Ich glaube kaum etwas von dem, was er sagt, ich halte ihn (wie mich) für eine dieser zweifelhaften Existenzen, die vom Reden leben können. Ich nicke zerstreut und beobachte ängstliche Rentner, die sich sogar an heißen Tagen warm anziehen. Es ergreift mich eine leichte Melancholie, weil ich den Sommer verschwinden sehe. Dieser Tage haben die Schwalben ihren langen Flug in den Süden angetreten. Von einem Tag auf den nächsten war ihr schönes Geschwirre einfach weg. Es ist Ende Juli, und ich fürchte mich schon jetzt vor dem Winter. Es wird wieder schneien, und der Schnee wird auf meinem Mantel, auf meinem Schal, auf meiner Mütze und sogar auf meinem Gesicht liegenbleiben, und ich werde wieder nicht wissen, ob der auf mir liegende Schnee mich beglückt oder erschreckt. Wir bleiben vor der Haustür eines sechsstöckigen Hauses stehen. Zu meiner Therapie gehört der Aufenthalt auf dem Dach dieses Hauses. Es ist ein Flachdach, man hat einen »extraordinären« (Dr. Ostwald) Rundblick über die Stadt bis hin zum Bergland. Bitte folgen Sie mir. Dr. Ostwald öffnet die Tür. Der Fahrstuhl bringt uns hoch in den fünften Stock, zum sechsten Stock, und von dort zur Dachluke führt eine Treppe. Dann stehen wir auf einem leicht windigen, von der Sonne angewärmten Dach von der Größe eines Spielplatzes. Um einen Kamin herum ist eine Sitzbank angelegt, auf der zwei Kissen liegen. Ganz offenkundig war
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