Die Liebesbloedigkeit
ich.
Ach so! Du hast dich schon öfter mit ihr getroffen?
Einmal in der Woche, meistens donnerstags.
Und was macht ihr konkret?
Wir setzen uns in ein Lokal und sprechen die Seiten durch, die sie in der zurückliegenden Woche gelesen hat.
Wie oft hast du sie schon getroffen?
Etwa fünfmal.
Und wie oft wirst du sie noch sehen?
Drei- oder viermal, dann sind wir durch.
Und sie bezahlt dich dafür?
Ja, sage ich.
Was kriegst du pro Abend?
Hundert, sage ich.
Ist die Frau wohlhabend?
Nicht besonders, vermute ich.
Und danach wirst du sie nicht mehr sehen?
Nein.
Wenn ich mich nicht täusche, ist Sandra von der Sicherheit meiner Antworten beeindruckt. Sie ist immer noch ein bißchen beunruhigt, aber im großen und ganzen schenkt sie mir Glauben. Ich komme mir ein bißchen widerlich vor und rede nur auf Aufforderung. Es ist klar, daß ich mit meinen Auskünften äußerst vorsichtig sein muß. Wie jeder Lügner überblicke ich meine Lügen nicht ganz. Zum Beispiel weiß ich nicht, ob Sandra auch gesehen hat, daß ich Judith nach einiger Zeit an der Hand genommen und daß ich während des Gehens gelegentlich den Arm um sie gelegt habe. Es ist möglich, daß Sandra mich in eine Falle lockt und wartet, bis sie mich beim Lügen ertappt. Wenn sie fragen würde: Und wie soll ich verstehen, daß du mit der Frau plötzlich intim geworden bist, wüßte ich keine Antwort. Aber offenbar habe ich Glück. Sandra scheint mich zwar gesehen, aber nicht verfolgt zu haben. Nach etwa einer Stunde läßt Sandras Mißtrauen nach, jedenfalls fürs erste. Ich fühle, sie ist nicht völlig überzeugt. Ein Rest Unbehagen bleibt. Schuldbewußt sitze ich da und lasse mich von Sandra unerträglich zwiespältig anschauen. Erst später fällt mir ein, daß mein Schweigen nicht zu meiner Unschuldsvermutung paßt. Aber da sitze ich schon am Telefon und frage Panik-Berater Dr. Ostwald nach der nächsten Therapiestunde.
Waren Sie in den letzten Tagen noch einmal auf dem Dach? fragt er dazwischen.
Ja.
Und? Haben Sie etwas entdeckt?
Ja, antworte ich, ein aufregendes Kind.
Gut, sagt Dr. Ostwald, bald werden Sie noch aufregendere Vorgänge beobachten.
Ich bin gespannt, sage ich routiniert.
Sie haben doch sicher ein paar nicht mehr ganz neue Dinge und Kleider, die Sie nicht mehr brauchen, die Sie aber auch nicht wegwerfen wollen?
Haufenweise, sage ich.
Also ich meine Schuhe, Pullover, Mützen, Hosen, die Ihnen zu klein geworden sind?
Natürlich, sage ich.
Und Sie haben außerdem einen kleinen Koffer oder eine Reisetasche, die Sie nicht mehr brauchen?
Ich weiß nicht wohin mit dem alten Zeug, sage ich.
Dann machen Sie bitte folgendes: Packen Sie einige der Kleidungsstücke, die Sie nicht mehr brauchen, in einen Koffer. Den gutgefüllten Koffer stellen Sie an einer belebten Stelle in der Stadt ab. Und beobachten Sie aus einiger Distanz, was mit Ihrem Koffer geschieht. Ob jemand Ihren Koffer mitnimmt oder ihn an Ort und Stelle leert oder sonstwas.
Etwa zehn Sekunden lang bin ich perplex. Ich weiß nicht, was ich fragen könnte.
Dr. Ostwald fragt: Können Sie das allein, oder soll ich mitgehen?
Nein nein, sage ich schnell, Sie müssen nicht mitgehen.
Gut, sagt der Panik-Berater. Am Abend rufen Sie mich an und sagen mir, was geschehen ist.
In Ordnung, mache ich. Das heißt, eine Frage noch: Was mache ich, wenn jemand meinen Koffer mitnimmt?
Sie machen nichts. Sie schauen dabei zu, wie etwas von Ihnen verschwindet.
Und wenn der Koffer stehenbleibt?
Dann machen Sie auch nichts. Sie betrachten den Koffer, solange Sie wollen, dann gehen Sie nach Hause.
Ja, gut, sage ich.
Ich führe aus, was mir der Panik-Berater aufgetragen hat. In meinem Schrank im Schlafzimmer liegt seit weiß Gott wievielen Jahren ein Managerkoffer, den mir Bettina einmal geschenkt hat. Da ich zum Glück kein Manager geworden bin, ist der Koffer so gut wie neu, wenn auch altmodisch. Im Schrankfach darüber liegen frisch gereinigte Hemden, die noch die Plastiküberzüge der chemischen Reinigung tragen. Zwei von ihnen packe ich in den Managerkoffer. Dazu ein paar sommerliche Mokassins, ebenfalls kaum benutzt. Und ein leichtes, beigefarbenes Sommersakko, das ich nur ein- oder zweimal getragen habe, weil ich es als zu kitschig empfand. Und drei Paar weiße Tennissocken, ebenfalls vom Kitschverdacht befallen. Ich zwänge noch zwei wollene Winterschals hinein, dann ist der Koffer voll. Auf dem Friedensplatz werde ich ihn abstellen. Der Platz ist mit Platanen bepflanzt, um
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