Die Liebesbloedigkeit
Dr. Ostwald hier schon mit anderen Klienten, ich weiß nicht, ob mir diese Entdeckung Vertrauen einflößt oder nicht. Wir setzen uns, Dr. Ostwald redet immer noch, wenngleich nicht mehr soviel wie vorhin. Es kommt darauf an, die üblichen Gedanken zu verlieren beziehungsweise auf ganz andere Gedanken zu kommen, sagt der Panik-Berater und reicht mir sein Fernglas. Zunächst klappt überhaupt nichts. Mit dem Fernglas sehe ich auf die Terrasse eines Pflegeheims, wo zwei Männer in weißen Kitteln ein paar Rollstuhlpatienten zum Auslüften abstellen. Der Mund der Patienten steht offen, ihre Finger sind krallenartig aufgespreizt und vom Körper weggestreckt. Die Augen der Patienten sind geschlossen, die Körper reglos. Wenn ich mich nicht täusche, stoßen die armen Greise irgendwelche Laute aus, die niemand beachtet. Bin ich auf einen üblen Scherz hereingefallen? Ich lasse das Fernglas schweifen und entdecke ein paar kleinere Werkstätten und Fabriken jenseits des Flusses, dazu einige Auslieferungslager und Speditionen. Im Hof einer Matratzenfabrik stehen lange Sattelschlepper, die gerade mit Sofas und Ehebetten beladen werden. Im Garten einer Villa entdecke ich schwarze, frische Maulwurfshügel. Es sieht aus, als wüßten die Maulwürfe, daß ihre Hügel nur dann nicht zertrampelt werden, wenn sie sie am Rand des Gartens auswerfen. Nach einer Weile denke ich nichts mehr, ich begnüge mich mit Schauen, Ruhen, Atmen, Müdewerden. Wars das schon?
Suchen Sie sich irgendeinen Anblick oder einen Gegenstand, der auf besondere Weise zu Ihnen spricht, sagt Dr. Ostwald. Im übrigen haben Sie Zeit. Wenn Sie heute kein Glück haben, probieren wir es nächste oder übernächste Woche wieder. Sie sollten stets denken: Die größte Geduld gilt mir selber. Doch dann entdecke ich in einem großen Garten ein Kind, ein etwa achtjähriges Mädchen, das mit einer winzigen Schere den Rasen schneidet. Das Mädchen sitzt in der Hocke und nimmt sich Grashalm für Grashalm vor. Ich bin augenblicklich hingerissen. Jeden Grashalm schaut das Mädchen an und trägt ihn dann zu einem kleinen Häuflein von bereits geschnittenen Halmen. Dieses unglaubliche Vertrauen in die Zeit und in die eigene Unendlichkeit darin! Dieses Unbeschwertsein vom Übermaß der Aufgabe! Dieses unwissende Gottvertrauen! Ich sitze da und schwärme im stillen von einem Kind, von dem ich nur den gebeugten Rücken und das schmutzigblonde Haar sehe. Jedesmal schaue ich mit, wenn das Mädchen mit einem neugeschnittenen Halm zu dem Häuflein zurückrennt und dann wieder nach vorne zu seiner (wie soll ich sagen) Weltvertrauensstelle. Ich frage Dr. Ostwald, ob ich auch morgen oder übermorgen eine Dreiviertelstunde auf dem Dach verbringen kann. Jederzeit, sagt er, Sie müssen niemanden fragen, hier ist der Schlüssel für die Haustür und die Dachluke.
Er reicht mir den kleinen Schlüsselbund. Die erste Therapiestunde ist vorüber, wir verlassen das Dach. Unten, vor der Haustür, verabschieden wir uns. Sie rufen mich an wegen der nächsten Stunde? fragt Dr. Ostwald. Ja, sage ich und bin weg.
Ich überlege kurz, ob ich an dem Garten vorbeigehen soll, in dem das Mädchen Gras schneidet. Aber es liegt nichts daran, die Bilder aus der Nähe zu sehen. Es gibt kaum etwas Bewegenderes, als durch plötzliche Bewunderung in eine sanfte Untätigkeit hineinzugleiten. In dieser Untätigkeit laufe ich umher und setze mich in einer Grünanlage auf eine Bank. Auf einer kleinen Wiese spielen ein paar Jungens Fußball. Aus ihren Schulranzen haben sie die Markierungen ihrer Tore gemacht. Vermutlich schwänzen sie die Schule, meine Bewunderung gilt auch ihnen. Warum habe ich kaum die Schule geschwänzt? Als feststand, daß mich die Schule nicht interessierte und die Lehrer mich entweder lähmten oder quälten, hätte auch ich zum Fußballspielen übergehen sollen. Meine nachgiebige Mutter hätte mir bereitwillig die Entschuldigungen geschrieben. Aber ich ging Tag für Tag in die Schule, blickte meinen elenden Lehrern ins Auge und ließ mich von ihnen demütigen. Zum Schuleschwänzen war ich entweder zu ernst oder, noch schlimmer, zu phantasielos. Zwischen den abgeblühten Fliedersträuchen kommt Herr Bausback, der Postfeind, hervor. Wahrscheinlich lauert er Briefträgern auf, die er bei unberechtigten Frühstückspausen überraschen und fotografieren möchte. Obwohl es hier weit und breit keine Briefträger gibt, fuchtelt er mit seinem Fotoapparat herum und kommt auf mich zu.
Stellen Sie sich
Weitere Kostenlose Bücher