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Die Liebesbloedigkeit

Die Liebesbloedigkeit

Titel: Die Liebesbloedigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Kleidung vergleichen. Oder vielleicht doch? Ich hatte immer den Wunsch, daß das Gefühl von der Undurchschaubarkeit des Lebens endlich zurückgehen möge. Statt dessen nimmt dieses Gefühl noch zu. Ich kann meine Erfahrung nicht ausdrücken, ich lebe im unaussprechlichen Bereich. Die Mongolen singen vor dem Hintergrund leichtgekleideter Schaufensterpuppen. Sie selbst sind in dunkelfarbige Steppengewänder gehüllt, in trachtenartigen Monturen, die ihren Körpern eine gegenständliche Form verleihen. Ihr Gesang ist schön, nur nicht gerade passend für mich, weil der seltsam kehlige Singsang meine Rührung steigert. Zwei der Sänger bedienen primitive Zupfinstrumente, einer sitzt hinter einem mit Tierhaut bespannten Schlagzeug. Die gepreßten Stimmen der Männer sind fremd und einsamkeitserregend, ich kann sie nicht länger ertragen. Ich wende mich ab und gehe in Richtung U-Bahn-Station, muß aber vorher an einer alten Bettlerin vorbei, die ganz in schwarze Umhänge eingehüllt ist und ebenfalls vor leichtbekleideten Schaufensterpuppen steht. Eine knochige, gichtige Hand schaut aus einem schwarzen Ärmel heraus, die andere Hand ist auf einen Stock gestützt. Bettlerinnen dieser Art sind sonst nur in Portugal oder Sizilien zu sehen, aber die Frau kommt nicht aus dem Süden. Sie spricht mich auf deutsch an: Eine Spende bitte.In meiner gerührten Eile sage ich: Heute nicht! und weise mich kurz danach schon wieder zurecht: Die Bettlerin hat jeden Tag Hunger, du kannst nicht Heute nicht! zu ihr sagen. Ich muß mich entlasten, ich kehre um und lege der Frau ein paar Münzen in die Hand. Die Kühle des U-Bahn-Schachts erleichtert mich endlich. Eine Bahn lasse ich weiterfahren, um mich noch ein bißchen länger abzukühlen. Die nächste Bahn ist voll, was mir recht ist, das Gedränge ist banal, wirklich und zerstreuend. Ich stehe auf der Plattform und bin einigen Menschen so nah, daß ich ihnen aus ganz kurzer Distanz in die Ohren schauen kann. An der nächsten Station steigt ein junger Mann mit einem alten Fahrrad zu. Ich betrachte den rissig gewordenen, fast schwärzlichen Ledersattel, er ist mindestens dreißig oder vierzig Jahre alt. In meiner Kindheit waren solche Ledersättel weit verbreitet, und sie sahen schon damals alt aus. Ich erleide einen Schweißausbruch, ich weiß nicht warum. Zum Glück muß ich nur noch zwei Stationen fahren, dann befinde ich mich wieder in der Kühle einer Haltestelle. Ich achte darauf, daß niemand mich dabei beobachtet, wie ich mir mit dem Taschentuch den Nacken auswische. Ich lege das Ohr an meine Seele, aber sie sagt mir nichts über die mögliche Bedeutung des Kofferexperiments. Oben, auf der Straße, sagt jemand das Wort Toastbrot. Aus Versehen verstehe ich Todbrot, aber ich denke mir nichts dabei. Außerdem verachte ich solche Winke mit dem Zaunpfahl. Noch auf der Straße wollte ich, wenn ich in meiner Wohnung sein würde, sofort den Panik-Berater anrufen. Jetzt, in meinem kleinen Arbeitszimmer, fasse ich das Telefon nicht an. Statt dessen spüre ich Hunger. Aber mein Eisschrank ist leer, der Brotkorb ebenfalls. Wenn ich mit einer Frau zusammenleben würde, gäbe es solche Pannen nicht. Durch das Hungergefühl weiß ich plötzlich, warum ich in der U-Bahn einen Schweißausbruch hatte: Der alte Ledersattel hat mich an die Armut meiner Kindheit erinnert. Aus Hunger habe ich, als ich neun oder zehn Jahre alt war, an den Endstücken der Lederriemen meiner Hosenträger gekaut. Das Leder gab, wenn ich es lange genug gekaut hatte, einen eigentümlichen, süßlich-bitteren Saft frei, der den Hunger stillte und ein bißchen betäubend wirkte. Allerdings durfte ich nicht zu lange auf den Riemen kauen, weil der gleiche Saft dann einen Brechreiz hochlockte. Die Erinnerung schwächt mich. Ein neuer Schweißausbruch kommt über mich. Ich ziehe mein Hemd aus und trockne mich ab. Das ist das Dumme an Erinnerungen: eine einzige würde mir genügen, aber es überfallen mich gleich Dutzende. Als ich zwölf war, kaufte Vater eine Haarschneidemaschine. Es war ein kleiner Handapparat in einer braunen Schachtel. Vater hatte die Maschine bei Woolworth gekauft, weil er das Geld für meine Kinderhaarschnitte sparen wollte. Er schob einen Stuhl in die Mitte der Küche und sagte, ich solle Platz nehmen. Vater war kein Friseur, er schnitt einfach alles ab, was ihm verzichtbar erschien. Nur oben, auf der Kopfplatte, ließ er ein paar Wuschel stehen. Ich sah aus wie ein unter einen Güterzug geratener

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