Die Liebesbloedigkeit
einige von ihnen sind kreisförmig Bänke aufgestellt. Dort sitzen jeden Tag Ruhesuchende und Bedürftige, die vielleicht auf ein kleines Glück hoffen. Wenig später verlasse ich die Wohnung. Trotz der Wärme sind viele Menschen draußen. Unterwegs überlege ich, ob ich einen fremden Koffer mitnehmen würde. Vermutlich nicht. Außer einer Brieftasche habe ich niemals etwas mitgehen lassen. Damals war ich in Not und konnte nicht anders. Auf dem Friedensplatz steht der Vogelverkäufer. Es ist ein älterer Mann, der mit einer fahrbaren, senkrecht aufgestellten Käfigwand in der Stadt herumtourt und Ziervögel verkauft, vor allem Sittiche, Nachtigallen, Finken und kleine Papageien. Der Vogelhändler ist ein bißchen heruntergekommen, auch seine Käfige sind nicht mehr gut gepflegt. Manchmal fliegen freche Tauben heran, klemmen sich von außen an die Käfige der Singvögel und picken zwischen den Käfigstäben hindurch, um an die Ziervögelnahrung heranzukommen. Der Vogelhändler vertreibt die Tauben nicht. Ich setze mich kurz auf die erstbeste Bank, stelle meinen Koffer neben mir ab, schaue ein bißchen umher und verschwinde wieder. Ich glaube, es hat mich niemand beobachtet. Ich lehne mich gegen eine Hauswand etwa vierzig Meter von meinem Koffer entfernt und beobachte, was geschieht. Ich vermisse meinen Koffer und die Sachen darin nicht. Eine gewisse Bewegtheit ist spürbar, ein inneres Ziehen, mehr nicht. Ich kann allenfalls sagen, daß meine allgemeine Tagesunruhe eine Spur zurückgegangen ist, seit ich den Koffer abgestellt habe. Ich warte neben einer Drogerie, das heißt neben einem Sonderangebot mit Waschlappen, das der Drogist in einer Wühlkiste nach draußen gestellt hat. Alle Waschlappen ähneln sich. Sie haben immer die gleiche Größe, sie sind weißlich bis vanillegelb, das heißt ungefähr seifenfarbig, sie stinken schon bald nach Gebrauch, und sie haben an der Öffnung links oder rechts einen Aufhänger, der nach einigen Wochen reißt, so daß jeder Waschlappen über dem Badewannenrand abgelegt wird und dort scheußlich ausschaut. Ich könnte eine Tirade über die Schädigungen loslassen, die mir in der Kindheit durch Waschlappen zugefügt worden sind, ich lasse es. Ein Behinderter kurvt mit seinem Elektromobil an einen Papierkorb heran, stoppt dort und führt per Handy ein Gespräch. Drei Motorradfahrer halten unter einer Platane, ziehen ihre schwarzen Helme ab und kaufen sich ein Eis. Zwei Krähen steigen in die riesigen Abfallkörbe hinab. Der Behinderte schiebt sein Handy zurück in seine Tasche und summt mit seinem Gefährt weiter. Eine Krähe flattert mit dem Rest einer Rindswurst im Schnabel aus dem Abfallkorb hervor. Schon nach kurzer Zeit ist zu sehen, daß alle Menschen erschöpft sind, alle, ohne Ausnahme. Durch ihre Mühe, die Erschöpfung nicht zu zeigen, kommt eine gewisse Inbrunst in die Welt, die gnadenreich und beseligend ist. Nur ganz wenige Menschen, Kellner zum Beispiel, dürfen sich trauen, die Erschöpfung öffentlich zu zeigen. Da setzt sich ein sogar übermäßig erschöpfter Mann mittleren Alters auf die Bank in unmittelbarer Nähe meines verlassenen Koffers. Er berührt mit dem rechten Hosenbein dessen rechte Seite. Die Absicht der Geste ist offenkundig: Man muß ihn für den Besitzer des Koffers halten. Schon jetzt könnte ich nicht mehr beweisen, daß es sich um meinen Koffer handelt. Wie der Mann durch die Art seines Umherschauens zeigt, daß er einen kleinen Diebstahl plant! Er hebt den Koffer leicht an, jetzt weiß er, daß er nicht leer ist. Ich nehme an, der Mann befindet sich im Zwiespalt. Es ist wunderbar: Im vollen Mittagslicht sehe ich einen Mann inmitten seiner Ratlosigkeit. Der Mann sieht nicht arm aus, aber ein paar neue Kleidungsstücke könnte er schon brauchen. Da steht er überraschend auf, packt meinen Koffer und geht weg.
Ich überlege kurz, ob ich ihn verfolgen soll, ich komme davon ab. Eine leichte Ergriffenheit zieht jetzt doch durch mich hindurch. Dein Koffer ist weg! Für immer! Ein kleiner Trost bleibt zurück: Es wird bald einen Fremden geben, der deine Hemden trägt. Meine Rührung wird stärker, es ist mir unangenehm. Ich verlasse den Friedensplatz und stelle mich in den Eingangsbereich eines Kaufhauses, wo eine Gruppe mongolischer Nomaden singt. Eine Art Wehmut packt mich. Es ist ein bißchen wie damals, als ich mich entschlossen hatte, Bettina zu verlassen. Gleich weise ich mich zurecht: Du kannst Bettina nicht mit einem Koffer voller ältlicher
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