Die Liebesgöttin (German Edition)
dich irgendwann dabei mit ihrer Sprache beschäftigt? In irgendeiner Weise?«
»Nicht, dass ich wüsste, Ricardo. Was soll ich auchmit einer ausgestorbenen Sprache. Ich wäre ja schon froh, wenn ich den heutigen Inseldialekt besser verstünde.«
Ricardo räusperte sich: »Umso erstaunlicher ist es, dass du gestern oben auf dem Plateau in Trance » No vacaguaré! No! « gerufen hast.«
»Ich habe doch gar keine Ahnung, was das heißt!«, protestierte Amanda lachend.
»Es handelt sich um die ausgestorbene Sprache der ebenfalls ausgestorbenen Guanchen«, erklärte der Meister ruhig, als handele es sich dabei um das Natürlichste der Welt. »Und bedeutet: » Nein, ich will nicht sterben! Nein! «
Amanda griff sich an die Stirn, in ihrem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander: »Mein Traum! Er hat mich mit sich vom Felsen ins Meer gerissen. Ich wollte nicht … wollte das nicht tun …«
»Nein«, sagte Ricardo sanft. »Du wolltest nicht. Er übrigens auch nicht, aber er fügte sich dem Urteilsspruch. Ihr hattet ohnehin keine Wahl.«
»Ich blicke nicht mehr durch, Meister. Hilf mir«, sagte Amanda.
»Es ist im Prinzip ganz einfach zu erklären. Der tranceartige Zustand auf dem Plateau gestern und deine wiederkehrenden Träume haben dich in ein früheres Leben versetzt. Du bist eine Guanchen-Prinzessin gewesen in diesem Leben, Amanda.«
»Darf ich jetzt lachen?« Sie starrte ihn an, aber der Meister blieb völlig ernst.
»Ich selbst muss zu derselben Zeit ebenfalls reinkarniertgewesen sein. Ich habe mich heute Nacht da oben in Trance in jenes Leben zurückversetzt. Anscheinend war ich ein Guanchen-Priester, und das Plateau war ein sogenannter Tagoror , ein kreisförmiger Platz, der aus Steinen gebildet wurde. Hier wurde der König gewählt, aber auch Urteile gesprochen.«
Amanda griff sich in einer unbewussten Geste an den Hals.
»Keine Angst«, sagte Ricardo. »Im heutigen Leben bist du sicher. Das Urteil wurde vor langer Zeit vollstreckt, an dir und deinem damaligen Geliebten.«
»Aber warum? Wofür? Wenn ich doch eine Prinzessin war, angeblich …«
»Eben deswegen! Du warst wunderschön und außerordentlich begabt. Du hast Steine zu Skulpturen verarbeitet. Du warst die Tochter des regierenden Königs. Du wurdest beinahe wie eine Art Liebesgöttin von den gemeinen Leuten verehrt. Du warst etwas Besonderes.«
»Deswegen wurde man damals zum Tode verurteilt? Na, ich danke!«, spottete Amanda.
»Nicht deswegen, dummes Ding! Du solltest den Göttern als Liebesopfer dienen. Dazu solltest du als reine Jungfrau von den Felsen ins Meer springen. Freiwillig. Die Spanier versuchten wieder einmal, die Insel zu erobern und die Guanchen in die Sklaverei zu verkaufen. 1494 nach Christus hatten sie sich schon einmal blutige Nasen bei La Matanza geholt. Aber es war klar, sie würden wiederkommen. Viel zahlreicher und besser bewaffnet und vorbereitet. Dem König schwante, dasser und seine Leute dann nur mit Hilfe der Götter eine Chance haben würden! Die spätere Geschichte hat denn auch bewiesen, dass die Ureinwohner Teneriffas dem spanischen Eroberungsdrang letztendlich zum Opfer fielen. Wie du ja weißt.«
»Dann war mein brutaler Tod auch noch umsonst? Das wird ja immer schöner, Ricardo!«
»Du warst ein ungehorsamer Fratz, wenn ich das mal so sagen darf!« Ricardo musste jetzt endlich doch grinsen. Aber die Geschichte war noch nicht zu Ende … »Wie gesagt, nur reine Jungfrauen taugten als Opfer für die Götter. Du aber hast einen Mann rangelassen, oft und gerne übrigens. Er war von einfacher Herkunft, was die Sache nicht besser machte in den Augen des Königs. Sah gut aus, der Kerl, war groß und kräftig und ebenfalls Künstler. Natürlich wurde er mit dir verurteilt. Ihr hattet beide noch Glück, dass du die Tochter des Königs warst. Sonst wärt ihr mit Steinbrocken erschlagen worden. Es war eine Art Gnadenbeweis, euch zusammen von einer Steilklippe ins Meer springen zu lassen. Beim Urteilsspruch bist du ausgeflippt und hast die Worte gerufen, die ich gestern aus deinem Munde wieder zu hören bekam. Dann bist du umgekippt. Geholfen hat es dir und ihm nichts. Noch am gleichen Tag wurde das Urteil vollstreckt.«
Amanda ging zum Fenster und sah hinunter in den Garten, als sie sagte: »Ricardo! Wer war der Richter?«
»Es war der König selbst, dein Vater.«
»Ich habe dir erzählt, dass in meinen beiden Träumen der Richter Adrians Stimme und Gesicht hatte.Und der Mann, der mich mit in den Tod riss,
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