Die Liebeshandlung
Mitchell als Freiwilliger im «Heim für sterbende Notleidende». Er kam fünf Tage in der Woche, von morgens neun bis kurz nach eins, und tat alles, was getan werden musste. Dazu gehörte, den Männern ihre Medizin zu verabreichen, sie zu füttern, ihnen den Kopf zu massieren, auf ihrem Bett zu sitzen und ihnen Gesellschaft zu leisten, ihnen ins Gesicht zu sehen und ihre Hand zu halten. Das alles musste man nicht gelernt haben, und trotzdem hatte Mitchell in seinen zweiundzwanzig Jahren auf dem Planeten vorher weniges davon gemacht und einiges gar nicht.
Er war vier Monate gereist, hatte drei verschiedene Kontinente und neun verschiedene Länder besucht, aber Kalkutta kam ihm wie der erste reale Ort vor, an dem er sich aufgehalten hatte. Das lag zum Teil daran, dass er allein war. Er vermisste Larry. Bevor Mitchell Athen verließ, als sie noch Pläne geschmiedet hatten, sich im Frühling wieder zu treffen, hatte ihr Gespräch den Grund ausgespart, weshalb Larry in Griechenland blieb. Dass Larry nunmehr mit Männern schlief, war bei den allgemeinen Gegebenheiten keine große Sache. Aber es warf ein neues, komplexeres Licht aufihre Freundschaft – besonders auf die durchsoffene Nacht in Venedig – und war ihnen beiden peinlich.
Wäre Mitchell imstande gewesen, Larrys Zuneigung zu erwidern, hätte sein Leben jetzt womöglich ganz anders ausgesehen. So wie es war, bekam das Ganze allmählich einigermaßen komische und shakespeareske Züge: Larry liebte Mitchell, der Madeleine liebte, die Leonard Bankhead liebte. Allein in der ärmsten Stadt auf Erden zu sein, wo er niemanden kannte, wo es keine Münztelefone gab und der Postdienst langsam war, beendete diese romantische Farce zwar nicht, aber es holte Mitchell von der Bühne.
Der andere Grund, weshalb Kalkutta ihm real vorkam, war, dass er sich hier mit einem Vorhaben aufhielt. Bis jetzt hatte er nur Sehenswürdigkeiten besichtigt. Das Beste, was er bis dahin über seine Reise sagen konnte, war, dass sie die Route einer Pilgerfahrt beschrieb, die ihn zu seinem gegenwärtigen Standort geführt hatte.
Die erste Woche in der Stadt hatte er damit verbracht, sie zu erkunden. Er hatte in Gesellschaft von sechs über achtzigjährigen Gemeindemitgliedern einem Gottesdienst in einer anglikanischen Kirche mit einem klaffenden Loch im Dach beigewohnt. In einem kommunistischen Schauspielhaus hatte er eine dreistündige Inszenierung der
Mutter Courage
auf Bengalisch durchgestanden. Er war die Chowringhee Road auf und ab gegangen, vorbei an Sterndeutern, die in verblassten Tarotkarten lasen, und an Friseuren, die am Bordstein hockend Haare schnitten. Ein Straßenverkäufer hatte Mitchell herbeigerufen, damit er sich seine Waren ansah: eine Krankenkassenbrille und eine gebrauchte Zahnbürste. Das nicht verlegte Abwasserrohr in der Straße war dick genug, dass eine Familie darin kampieren konnte. In der Bank of India trug der vor Mitchell in der Schlange stehende Geschäftsmanneine solarbetriebene Armbanduhr. Die Polizisten, die den Verkehr regelten, bewegten sich so ausdrucksvoll wie Toscanini. Die Kühe waren dünn und hatten geschminkte Augen wie Models. Alles, was Mitchell sah, roch und schmeckte, unterschied sich von dem, was er gewohnt war.
Von der Minute an, als sein Flugzeug um zwei Uhr nachts auf dem Calcutta International Airport landete, hielt Mitchell Indien für den perfekten Ort, um zu verschwinden. Die Fahrt in die Stadt war durch beinahe vollständige Dunkelheit vonstattengegangen. Durch das mit einem Vorhang versehene Heckfenster des Ambassador-Taxis erkannte Mitchell Reihen von Eukalyptusbäumen, die an der unbeleuchteten Schnellstraße standen. Die Wohngebäude, die sie dann erreichten, waren massig und dunkel. Das einzige Licht kam von mitten auf Kreuzungen brennenden Feuern.
Das Taxi hatte ihn zum Guest House der Heilsarmee in der Sudder Street gebracht, und dort wohnte er seitdem. Seine Zimmergenossen waren ein siebenunddreißigjähriger Deutscher namens Rüdiger und Mike aus Florida, ein ehemaliger Haushaltsgerätevertreter. Die drei teilten sich eine kleine Gästehütte gegenüber dem überfüllten Hauptgebäude. Das Viertel um die Sudder Street stellte das bescheidene Touristengebiet der Stadt dar. Auf der anderen Straßenseite stand ein herrliches Hotel, das auf alte Indienhasen spezialisiert war, größtenteils Engländer. Ein paar Straßen weiter die Jawaharlal Nehru Road entlang lag das Oberoi Grand mit seinen turbantragenden Portiers. Das
Weitere Kostenlose Bücher