Die Liebeshandlung
starrte Mitchell mit grimmigen, blutunterlaufenen Augen an. «Bei meinem Zustand brauche ich eine wöchentliche Dialyse. Ich habe versucht, den Schwestern das zu sagen, aber sie verstehen es nicht. Dorftrampel!»
Der Agronom ließ den funkelnden Blick noch länger auf ihm liegen. Dann öffnete er überraschend den Mund wie ein Kind. Mitchell legte ihm die Tabletten auf die Zunge und wartete, bis er sie hinunterschluckte.
Als Mitchell fertig war, ging er die Ärztin suchen, aber sie hatte in der Frauenstation zu tun. Erst nachdem er das Mittagessen ausgegeben hatte und gehen wollte, fand er Gelegenheit, mit ihr zu sprechen.
«Hier liegt ein Mann, der sagt, er braucht eine Dialyse», berichtete er der Ärztin.
«Das glaub ich gern», sagte sie, lächelte traurig und ging mit einem Nicken davon.
Das Wochenende kam, und Mitchell stand es frei zu machen, was er wollte. Beim Frühstück traf er Mike, der, über den Tisch gebeugt, ein Foto anstarrte.
«Warst du mal in Thailand?», sagte er, während Mitchell sich setzte.
«Noch nicht.»
«Es ist umwerfend.» Mike reichte Mitchell den Schnappschuss. «Guck dir das Mädel an.»
Auf dem Foto war ein schlankes Thaimädchen, nicht hübsch, aber blutjung, das im Vorbau einer Bambushütte stand. «Sie heißt Meha», sagte Mike. «Sie wollte mich heiraten.» Er schnaubte. «Ich weiß, ich weiß. Sie ist ein Animiermädchen. Aber als wir uns kennenlernten, hatte sie erst seit etwa einer Woche gearbeitet. Zuerst haben wir nicht mal was gemacht. Nur geredet. Sie meinte, sie wollte für ihren Job Englisch lernen, also saßen wir an der Bar, und ich hab ihr ein paar Wörter beigebracht. Sie ist
siebzehn
oder so. Na, ich bin dann ein paar Tage später noch mal in die Bar, und da war sie wieder, und ich hab sie mit in mein Hotel genommen. Und dann sind wir für eine Woche nach Phuket gefahren. Sie war so was wie meine Freundin. Jedenfalls kommen wir nach Bangkok zurück, und sie sagt, sie will mich heiraten. Ist das zu fassen? Sie meinte, sie wollte mit mir in die Staaten gehen. Ich hab tatsächlich einen Moment lang darüber nachgedacht, ganz im Ernst. Meinst du, ich könnte so ein Mädel zu Hause in den Staaten kriegen? Die für mich kochen und putzen würde? Und auch noch so einen Hintern hat? Nee, Mann. Die Zeiten sind vorbei. Die amerikanischen Frauen versorgen sich jetzt alle selbst. Im Grunde sind sie alle
Männer
. Also, ja, ich hab drüber nachgedacht. Aber dann, eines Tages beim Pissen, hab ich so ein Brennen in meinem Johannes. Ich dachte, sie hätte mir was angehängt! Ich bin also wieder in die Bar und hab sie zusammengeschissen. Dann stellte sich raus, es war gar nichts. Bloß Spermizid oder so was in meinem Schaft. Ich also zurück, um mich bei Meha zu entschuldigen, aber sie wollte nicht mehr mit mir reden. Irgend so ’n anderer Kerl saß bei ihr. Irgend so ’n fetter Holländer.»
Mitchell gab ihm das Foto zurück.
«Was meinst du?», sagte Mike. «Ist sie nicht hübsch?»
«Wahrscheinlich war’s eine gute Idee, sie nicht zu heiraten.»
«Ich weiß. Ich bin ein Idiot. Aber ich sag dir, sie war so was von
scharf
, Mann.
O Gott.
» Er schüttelte den Kopf und steckte das Bild wieder in seine Brieftasche.
Da Mitchell an einem Samstag nirgendwohin musste, ließ er sich noch eine halbe Stunde Zeit mit dem Frühstück. Als die Kellner nicht mehr bedienten und seinen Teller abgeräumt hatten, schlenderte er in die kleine Leihbücherei im ersten Stock und durchstöberte die Regale nach spirituellen oder religiösen Titeln. Der einzige andere dort war Rüdiger. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, wie immer barfuß. Er hatte einen großen Kopf, weit auseinanderstehende graue Augen und ein leichtes Habsburger-Kinn, und er trug selbstgemachte Kleider, wadenlange enge braune Hosen und eine ärmellose Tunika in der Farbe von frisch gemahlener Kurkuma. Mit seiner bequemen Kleidung, seiner ranken Gestalt und den nackten Füßen ähnelte er einem Zirkusakrobaten. Rüdiger war eine quicklebendige Erscheinung. Er war seit siebzehn Jahren ununterbrochen unterwegs und hatte nach eigener Aussage jedes Land der Welt außer Nordkorea und dem Südjemen bereist. Er war
mit dem Fahrrad
nach Kalkutta gekommen, indem er die zweitausend Kilometer von Bombay auf einem italienischen Zehngangrad zurückgelegt und am Straßenrand kampiert hatte. In der Stadt hatte er das Fahrrad verkauft und genug Geld dafür erhalten, dass er die nächsten drei Monate davon leben konnte.
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