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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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saß er still da und las. Er blickte nicht auf, als Mitchell eintrat.
    Mitchell nahm ein Buch aus einem der Regalfächer, Francis Schaeffers
Gott ist keine Illusion
. Aber bevor er es aufschlagen konnte, begann Rüdiger plötzlich zu sprechen.
    «Ich habe mir auch die Haare abgeschnitten», sagte er. Er fuhr sich mit der Hand über seine Stoppelfrisur. «Ich hatte immer so schöne Locken. Aber das mit der Eitelkeit, das war so
schlimm

    «Ich bin mir nicht sicher, ob es in meinem Fall Eitelkeit war», sagte Mitchell.
    «Was denn dann?»
    «Eine Art Reinigungsprozess.»
    «Das ist doch dasselbe! Ich weiß, was für einer du bist», sagte Rüdiger, musterte Mitchell genau und nickte. «Du denkst, du bist nicht eitel. Du bist vielleicht nicht so eitel in Bezug auf deinen Körper. Aber wahrscheinlich bildest du dir mehr darauf ein, wie
intelligent
du bist. Oder wie
gut
. In deinem Fall hat das Haareabschneiden deine Eitelkeit vielleicht nur noch schlimmer gemacht!»
    «Kann sein», sagte Mitchell und wartete auf mehr.
    Doch Rüdiger wechselte schnell das Thema. «Ich lese gerade ein Buch, das phantastisch ist», sagte er. «Ich lese es seit gestern, und jede Minute denke ich: Wow!»
    «Was ist es denn?»
    Rüdiger hielt ein zerfleddertes Buch mit grünem Einband hoch. «
Jesu Antworten auf Hiob
. Im Alten Testament stellt Hiob Gott andauernd Fragen: ‹Warum tust du mir so Schreckliches an? Ich bin doch dein treuer Diener.› Wieder und wieder fragt er. Aber antwortet Gott? Nein. Gott sagt nichts. Mit
Jesus
ist es eine andere Geschichte. Der Mann, der das Buch hier geschrieben hat, vertritt die Theorie, dass das Neue Testament eine direkte Antwort auf das Buch Hiob ist. Er macht eine vollständige Textanalyse, Zeile für Zeile, und ich kann dir sagen, die ist
gründlich
. Ich komme hier in die Bücherei und finde dieses Buch, und es ist erste Sahne –
doozy,
wie ihr Amerikaner sagt.»
    «Wir sagen nicht
doozy
», sagte Mitchell.
    Rüdiger hob skeptisch die Brauen. «Als ich in Amerika war, haben sie immerzu
doozy
gesagt.»
    «Wann war das denn, 1940?»
    «1973!», widersprach Rüdiger. «Benton Harbor, Michigan. Ich habe drei Monate lang für einen Akzidenzdrucker gearbeitet. Lloyd G.   Holloway. Lloyd G.   Holloway und seine Frau Kitty Holloway. Kinder: Buddy, Julie, Karen. Ich hatte so diese Vorstellung, ein Meisterdrucker zu werden. Und Lloyd G.   Holloway, der mein Meister war, hat immer
doozy
gesagt.»
    «Okay», lenkte Mitchell ein. «Vielleicht in Benton Harbor. Ich bin auch aus Michigan.»
    «Bitte lass uns nicht versuchen, uns durch unsere jeweilige Biographie zu verstehen», sagte Rüdiger abweisend.
    Und damit wandte er sich wieder seinem Buch zu.
    Nachdem Mitchell zehn Seiten von
Gott ist keine Illusion
gelesen hatte (Francis Schaeffer leitete in der Schweiz eine Einrichtung, wo man, wie Mitchell gehört hatte, umsonst wohnen konnte), stellte er das Buch wieder ins Regal und verließ die Bücherei. Den Rest des Tages lief er in der Stadt herum. Seltsamerweise ging mit seiner Sorge, den Ansprüchen vom Kalighat nicht gewachsen zu sein, eine stark gesteigerte Religiosität einher. Einen Großteil der Zeit in Kalkutta war er von einer ekstatischen Seelenruhe erfüllt, wie bei leichtem Fieber. Seine Meditationen hatten sich vertieft. Er erlebte Fallempfindungen, als tauche er mit großer Geschwindigkeit. Minutenlang vergaß er, wer er war. Draußen auf der Straße versuchte er, oft mit Erfolg, vor sich selbst zu verschwinden, um, paradoxerweise, präsenter zu sein.
    Es war nicht einfach, irgendetwas davon zu beschreiben. Selbst Thomas Merton konnte nur so etwas sagen wie: «Ichhabe mir angewöhnt, in der Gegenwart Gottes unter den Bäumen auf und ab zu gehen oder entlang der Friedhofsmauer.» Die Sache war die, dass Mitchell jetzt wusste, was Merton meinte, oder zumindest glaubte, es zu wissen. Während er die wunderschönen Ansichten in sich aufnahm – das staubige Polofeld, die heiligen Kühe mit ihren bemalten Hörnern   –, hatte er sich angewöhnt, in der Gegenwart Gottes in Kalkutta umherzugehen. Zudem schien es ihm, als dürfte das keine schwierige Sache sein. Es war etwas, womit jedes Kind sich auskannte: eine direkte und vollständige Verbindung zur Welt aufrechtzuerhalten. Irgendwie vergaß man es beim Heranwachsen und musste es noch einmal lernen.
    Manche Städte sind zu Ruinen verfallen, manche sind auf Ruinen erbaut; andere jedoch werden zu Ruinen, während sie noch wachsen. So eine Stadt

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