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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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gerechtfertigt sein. Aber, hey, lies bei Nietzsche nach, wenn du was über diesen Gedanken wissen willst.Nietzsche meinte, dass Luther es den Leuten nur leichtgemacht hat. Sorgt euch nicht, wenn ihr keine guten Werke tun könnt. Glaubt einfach. Seid im Glauben. Der Glaube wird euch rechtfertigen! Stimmt’s? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Nietzsche war nicht gegen das Christentum, wie alle denken. Nietzsche meinte bloß, es gab nur einen Christen, und das war Christus. Nach ihm war es zu Ende.»
    Er hatte sich in eine Träumerei hineingeredet. Lächelnd starrte er zur Decke hinauf, sein Gesicht strahlte. «Es wäre schön, so ein Christ zu sein. Der erste Christ. Bevor das Ganze über den Jordan ging.»
    «Möchtest du das sein?»
    «Ich bin nur ein Reisender. Ich reise, ich habe alles, was ich brauche, bei mir, und ich habe keine Probleme. Ich habe keinen Job, außer wenn ich einen brauche. Ich habe keine Frau. Ich habe keine Kinder.»
    «Du hast keine Schuhe», hob Mitchell hervor.
    «Früher hatte ich welche. Aber dann merkte ich, dass es ohne viel besser ist. Ich gehe überall ohne Schuhe. Sogar in New York.»
    «Du bist in New York barfuß gelaufen?»
    «Barfuß in New York ist es wunderbar. Es ist, als würde man auf einem großen, riesigen Grab gehen!»
    Der nächste Tag war ein Montag. Mitchell wollte zunächst seinen Brief aufgeben, deshalb kam er spät im Kalighat an. Ein Freiwilliger, den er noch nie gesehen hatte, war schon mit dem Medikamentenwagen unterwegs. Die irische Ärztin war nach Dublin zurückgekehrt, und an ihrer Stelle war ein neuer Arzt, der nur Italienisch sprach.
    Seiner üblichen Morgenbeschäftigung beraubt, trieb Mitchell sich die nächste Stunde auf der Station herum und schaute, was er tun konnte. In einem Bett in der oberen Reihelag ein acht- oder neunjähriger Junge, der einen Springteufel in der Hand hielt. Mitchell hatte im Kalighat noch nie ein Kind gesehen und kletterte zu ihm hinauf. Der Junge mit dem rasierten Kopf und den dunklen Ringen unter den Augen gab ihm den Springteufel. Sofort sah Mitchell, dass das Spielzeug kaputt war. Der Deckel schnappte nicht zu, weshalb die Figur nicht drinblieb. Er hielt den Deckel mit dem Finger fest, bedeutete dem Jungen, den Hebel zu drehen, und ließ den Deckel im richtigen Augenblick los, sodass der Teufel heraussprang. Das gefiel dem Jungen. Er ließ es Mitchell wieder und wieder machen.
    Inzwischen war es nach zehn. Zu früh, um das Mittagessen auszugeben. Zu früh, um zu gehen. Die meisten anderen Freiwilligen badeten Patienten, zogen schmutzige Laken von den Betten ab oder wischten über die als Matratzenschutz dienenden Gummimatten – erledigten also die dreck- und geruchsintensiven Aufgaben, die Mitchell auch hätte übernehmen müssen. Einen Augenblick lang beschloss er, sofort,
in dieser Sekunde,
damit anzufangen. Aber dann sah er den Bienenzüchter, beide Arme voll besudelter Laken, auf sich zukommen, wich unwillkürlich in den Gang zurück und stieg die Treppe hinauf aufs Dach.
    Er sagte sich, er gehe nur eine oder zwei Minuten lang aufs Dach, um dem Desinfektionsgeruch auf der Station zu entkommen. Er war heute aus einem bestimmten Grund hier, und der Grund war, seine Zimperlichkeit zu überwinden, aber vorher brauchte er ein bisschen Luft.
    Auf dem Dach hängten zwei weibliche Freiwillige Wäsche auf. Eine, die sich wie eine Amerikanerin anhörte, sagte: «Ich habe der Mutter gesagt, ich würde gern Urlaub nehmen. Vielleicht nach Thailand fliegen und eine oder zwei Wochen am Strand liegen. Ich bin seit fast sechs Monaten hier.»
    «Was hat sie geantwortet?»
    «Sie sagte, das einzig Wichtige im Leben ist die Nächstenliebe.»
    «Deshalb ist sie ja auch eine Heilige», sagte die andere Frau.
    «Kann ich nicht eine Heilige werden und trotzdem mal an den Strand gehen?», sagte die Amerikanerin, und beide lachten.
    Während sie redeten, trat Mitchell ans hintere Ende des Daches. Als er über den Rand spähte, stellte er überrascht fest, dass er in den Innenhof des benachbarten Kalitempels hinuntersah. Auf einem Steinaltar lagen ordentlich aufgereiht sechs Köpfe von frisch geschlachteten Ziegen, deren struppige Hälse von Blut glänzten. Mitchell gab sich alle Mühe, ökumenisch zu denken, aber bei Tieropfern war Schluss. Er starrte noch eine Weile auf die Ziegenköpfe und ging dann, kurz entschlossen, die Treppe hinunter zum Bienenzüchter.
    «Da bin ich wieder», sagte er.
    «Bravo», sagte der Bienenzüchter. «Genau im

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