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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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ihm nie aufgegangen, wie wenig nützliche Fähigkeiten er auf dem College erworben hatte. Es gab keine Marktlücken für religionswissenschaftliche Tutoren. Die einzige Annonce, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog, lautete: «Fahrer gesucht – alle Schichten». Allein auf der Grundlage seines gültigen Führerscheins wurde Mitchell noch am selben Abend angeheuert. Er arbeitete in Zwölf-Stunden-Schichten, von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens, und fuhr in der East Side von Detroit. Auf den Rädern der schlecht instandgehaltenen Wagen, die er von dem Taxiunternehmen mieten musste, suchte Mitchell verlassene Straßen nach Fahrgästen ab oder parkte, um Sprit zu sparen, unten am Fluss und wartete auf einen Anruf über Funk. Detroit war keine Taxi-Stadt. Es gab fast keinen Fußgängerverkehr. Niemand winkte ihm von der Bordsteinkante, vor allem nicht um drei oder vier Uhr morgens. Die anderen Taxifahrer waren ein kläglicher Haufen. Statt der mutigen Immigranten oder weise Sprüche klopfenden Einheimischen, die er anzutreffen gehofft hatte, bestand die Truppe aus ausgemachten Losern. Es waren Gestalten, die bei jedem Versuch, irgendetwas zu arbeiten, definitiv versagt hatten. Versagt beim Service an den Zapfsäulen, versagt beim Popcorn-Verkauf an kinoeigenen Ständen, versagt gegenüber ihren Schwägern, denen sie beim Verlegen von PV C-Rohren in Eigentumswohnungen der untersten Preisklasse helfen sollten, versagt als Kleinkriminelle, als Schrottsammler und bei Gartenarbeiten, versagt in der Schule und in der Ehe, und jetzt waren sie hier und versagten als Taxifahrer im aussichtslosen Detroit. Der einzige andere gebildete Fahrer, der ein Juradiplom besaß, war über sechzig und wegen emotionaler Labilität von seiner Firma entlassen worden. Spätnachts, wenn der Funkverkehr ruhte, versammelten die Fahrer sichauf einem Grundstück am Fluss, nahe der alten Medusa-Zementfabrik. Mitchell hörte ihren Gesprächen zu, sagte nichts und hielt sich auf Abstand vor lauter Angst, dass sie merkten, was für einer er war. Er bemühte sich sehr, überspannt zu wirken, gab seinen besten Travis Bickle, damit keiner wagte, sich mit ihm anzulegen. Es funktionierte. Die anderen ließen ihn in Ruhe. Dann fuhr er davon, parkte in einer Sackgasse und las mit der Taschenlampe
Die Aspern-Schriften
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    Er beförderte eine alleinstehende Mutter mit vier Kindern um drei Uhr morgens von einem baufälligen Haus zu einem anderen. Er brachte einen erstaunlich höflichen Drogendealer zu einer Übergabe. Er fuhr einen schmucken Billy-Dee-Williams-Doppelgänger mit Minipli und Goldkettchen, der sich Süßholz raspelnd zu einer Frau mit verriegelter Tür durchschlug, die ihn scheinbar nicht einlassen wollte, es dann aber doch tat.
    Das große Thema beim täglichen Palaver der Taxifahrer war immer das gleiche: die Nachricht, dass einer von ihnen – den etwa dreißig, die gerade Schicht fuhren – richtig Geld gemacht hatte. Jede Nacht holte mindestens ein Fahrer zwei- oder dreihundert Mäuse rein. Bei den meisten schien es nicht im Entferntesten so viel zu sein. Nach einer Woche Arbeit rechnete Mitchell den Gesamtertrag seiner Fahrten gegen das auf, was er für den Wagen und das Benzin bezahlt hatte. Er teilte den Saldo durch die Anzahl seiner Arbeitsstunden und kam auf einen Stundenlohn von minus 76   Cent. Im Grunde genommen bezahlte er East Side Taxi dafür, dass er dessen Wagen fuhr.
    Den Rest des Sommers verbrachte Mitchell mit Tischeabräumen in einem brandneuen, als Taverne aufgemachten Restaurant in Greektown. Er mochte die älteren Lokale an der Monroe Street, Restaurants wie das Grecian Gardens oderdas Hellas Café, in die seine Eltern ihn und seine Brüder als Kinder zu größeren Familienanlässen mitgenommen hatten, Restaurants, die damals nicht von Vorstädtern besucht wurden, die nach Downtown kamen, um billigen Wein zu trinken und flambierte Vorspeisen zu bestellen, sondern von gut gekleideten Immigranten, die Würde ausstrahlten und etwas Verlorenes an sich hatten, einen Ausdruck dauerhafter Melancholie. Die Männer gaben ihre Hüte bei einem Mädchen ab, gewöhnlich der Tochter des Wirts, die sie ordentlich in der Garderobe stapelte. Mitchell und seine Brüder, mit angesteckten Clip-Krawatten, saßen, wie Kinder es jetzt nicht mehr taten, ruhig am Tisch, während ihre Großeltern, Großtanten und Großonkel sich auf Griechisch unterhielten. Er vertrieb sich die Zeit mit der eingehenden Betrachtung ihrer gigantischen Ohrläppchen

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