Die Liebeslist
Belagerung nicht doch noch anders überlegt.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Burg. Am Abend herrschte stilles Frohlocken. Teile von Fitz Osberns Streitmacht rückten bereits ab. Andere vermittelten den Eindruck, als würden sie bald folgen. Der Belagerungsturm wurde abgebaut. Es wurden Wetten abgeschlossen, dass mit Anbruch des folgenden Tages der ganze Spuk vorbei und die Belagerung ausgestanden sein werde.
Rosamund hörte die Gerüchte und überzeugte sich selbst. Es stimmte tatsächlich.
Woher diese plötzliche Kehrtwende?
Sie wusste es nicht, und es war ihr auch einerlei. Falls sie nicht bald handelte, würde er fort sein, endgültig verloren. Eleanors Ratschlag zu folgen war also nicht mehr eine Frage des Mutes, sondern ihre einzige Möglichkeit, doch noch alles zum Guten wenden. Ihr blieb keine Wahl, wollte sie nicht für den Rest ihrer Zeit ohne Gervase leben müssen.
12. KAPITEL
Während der Nachtstunden, als Gervases Truppen ein letztes Mal vor dem Aufbruch ruhten, wurde seine Entscheidung unerwartet über den Haufen geworfen. Gervase wurde von Watkins aus dem Schlaf gerissen; zwei Wachposten standen draußen vor dem Zelt.
„Mylord!“ Zwischen sich hielten die beiden eine zappelnde dünne Gestalt. „Wir haben einen Gefangenen. Der dachte wohl, er könnte uns entwischen und sich durch die Linien schlängeln. Meinte vermutlich, wir würden uns allesamt süßen Träumen hingeben!“ Unsanft zerrten sie den sich windenden Hänfling hoch.
Gervase fuhr sich mit den Händen durchs Haar, rieb sich übers Gesicht und winkte das Trio näher in den Schein der Fackel. Was hatte denn das nun wieder zu bedeuten?
„Wo habt ihr den aufgegriffen?“
„Beim Feldposten. Als er versuchte, sich durchzumogeln. Kam über die Palisaden geklettert.“
Gervase packte den Gefangenen beim Arm und drehte ihn so, dass der Fackelschein auf das Gesicht fiel. Ein kleiner Kerl, in der Tat. Keiner aus der Burgwehr, sondern ein junger Bursche, blass, mit dichtem schwarzen Haar. Irgendwie kam er Gervase bekannt vor.
„Du bist doch der Küchenjunge, stimmt es?“
„Aye, Mylord.“
„Wie heißt du gleich noch?“
„Tom, Mylord.“ Der Junge wischte sich die Nase am Ärmel ab. Sonderlich furchtsam wirkte er nicht.
„Bist du weggelaufen?“
„Genau. Wollte ins Dorf. Da wohnt meine Mutter.“ Er grinste. „Von den Notrationen werde ich nicht satt.“
„Und da gehst du das Wagnis ein, dass du einen Pfeil in den Hintern kriegst?“
„Das hättet Ihr bestimmt nicht zugelassen, Mylord. Ich durfte doch sogar mal mit Eurem Hund spielen.“
Gervase grunzte. Der Bursche war anscheinend ein rechter Einfaltspinsel. „Wo bist du denn rübergeklettert?“
„Da hinten.“ Er wies mit dem Arm in die Richtung. „In der hintersten Ecke, wo die Palisaden noch ziemlich marode sind. Da habe ich mich abgeseilt. In den Entwässerungsgraben, der in den Fluss mündet.“
Gervase musste schmunzeln. Also selbst der Küchenjunge kannte die Schwachstellen des Kastells! Da bestand in der Tat dringender Handlungsbedarf. „Und wo ist dein Seil jetzt?“
„Das hängt noch an der Palisade. Bis es morgen einer findet. Lasst Ihr mich jetzt ziehen?“
„Das könnte dir so passen! Könntest du uns den Weg hineinweisen? Wo du über die Palisaden gestiegen bist?“
„Da kriegen mich keine zehn Pferde mehr rein.“
Gervase hielt ihm ein Geldstück hin. „Überleg es dir. Soll dein Schaden nicht sein, wenn du uns hilfst.“
Die Augen des Jungen funkelten wie die Münze. „Na ja, Mylord, ich könnte schon …“
„Sehr vernünftig.“ Gervase winkte Watkins heran. „Lass den Haufen wecken. Aber leise! So, Bürschchen, und du erzählst mir jetzt mal, wie in der Burg der Wachdienst abläuft. Wie viele Posten sind aufgestellt und wo?“
Tom blinzelte. Für ihn gab es erst einmal Wichtigeres. „Mir knurrt der Magen.“
„Na schön, wir werden dich nicht verhungern lassen. Komm mit.“
Es war tatsächlich ein Kinderspiel. Beim ersten Morgengrauen, als man gerade mal die Hand vor Augen sehen konnte, pirschte sich eine Handvoll Männer unter Führung des Küchenjungen im Gänsemarsch durch die Abflussrinne bis zu den Palisaden. Dann rasch am Seil an den Pfosten hinauf und über den Rand – schon war man in der Burg. Ein kurzes Handgemenge, ein paar blutige Nasen, ein paar Beulen und blaue Flecke, dann öffnete sich das Tor, und herein ritt Fitz Osbern mit seiner Truppe. Die ahnungslosen Damen de Longspey schliefen
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