Die Liebeslotterie
Krovic. Nun sehen Sie ihn wie schon am ersten Tag, er liegt flach auf dem Teppich ausgestreckt und linst durch den Spalt unter der Tür in der Hoffnung, einen Blick auf Frau Agathe Stopaks Füße zu erhaschen.
Und dann, nachdem er sie hat vorbeigehen sehen, nachdemer einen liebevollen Blick auf ihre pinklackierten Zehnägel werfen und sich persönlich davon überzeugen konnte, dass sie wohlauf und am Schreibtisch und somit in seiner Nähe war, konnte Bürgermeister Krovic seinen Arbeitstag beginnen.
Der Arbeitstag hatte angefangen wie alle anderen auch, mit aufstehen und Teppichflusen abbürsten und seufzen. Danach setzte der gute Tibo Krovic sich an seinen Schreibtisch, um noch ein bisschen weiter zu seufzen. Auf dem Gebiet des Seufzens hatte Tibo sich verbessert, er hatte Fortschritte gemacht. Dieser Tage seufzte er kaum noch. Er war nicht länger ein Sklave seines hilflosen niedergeschlagenen Schluchzens. Tibo hatte gelernt, sich anzupassen, so, wie ein dreibeiniger Hund irgendwann wieder laufen lernt und weiß, dass er sich zum Pinkeln irgendwo anlehnen muss, an einen Laternenpfahl zum Beispiel. Tibo verlor sich nicht mehr in unkontrollierbaren Weinkrämpfen. Irgendwann hatte er festgestellt, dass es nicht länger nötig war, sich schriftlich an Agathe zu wenden, wenn er ihr eine Anweisung geben oder sie um Hilfe in dieser oder jener Angelegenheit bitten wollte. Er schaffte es, mit ihr zu reden, und seine Stimme blieb dabei ruhig und fest. Er brachte es sogar über sich, ihr ins Gesicht zu sehen, außer wenn sie zufälligerweise ihre tiefen, dunklen Augen auf ihn richtete. In dem Fall musste er beiseiteschauen. Wie der dreibeinige Hund war Tibo ein Amputierter. Man hatte ihm etwas entrissen, und es würde niemals wieder nachwachsen.
Trotz seiner eisernen Vorsätze – «Silvester bin ich wieder glücklich», oder «bis zu meinem nächsten Geburtstag bin ich drüber weg», oder «im September werden es zwei Jahre, und zwei Jahre sind genug» – liebte er sie immer noch. Dafür hasste er sich. Er fand es lächerlich, jahrelang einer Sache nachzuweinen, die nur Monate gedauert und die er erst wenigeMomente vor ihrem Ende durchschaut hatte. Dann wiederum sagte er sich, dass auch das kürzeste Leben zu achten sei. Ein Baby, das in der Wiege stirbt, oder ein totgeborenes Baby ist immer noch ein Baby, das liebevoll gehütet wird, und eine Liebe bleibt eine Liebe, egal, wie kurz sie andauert.
Und wenn er täglich aufs Neue ihre Gegenwart ertrug, ohne sich über seine Schmerzen zu beklagen, wenn er niemals etwas durchblicken ließ und ihr in den gesamten drei Jahren kein einziges Mal auch nur den Hauch eines Vorwurfes gemacht hatte, wusste er tief in seinem Herzen, dass sie für Desinteresse hielt, was in Wahrheit ein konstanter, täglich erneuter Liebesbeweis war. Es schmerzte ihn zu sehen, dass sie nicht anerkannte, was er für sie tat, aber gleichzeitig versüßte sie ihm damit das Märtyrium, abgesehen von jenen Tagen, an denen er sich in ihrer Kälte suhlte. Dann ließ er den Kopf zwischen die Hände sinken und murmelte: «Erbärmlich.» Es war erbärmlich, den Mut zu schweigen aufzubringen, wo er einst nicht genügend Mut zu sprechen gehabt hatte. Und dann war es zu spät gewesen, viel zu spät.
Tibo gab sich denselben Phantasien hin wie jeder verlassene Liebhaber. Er stellte sich vor, er sei tot und trotzdem irgendwie in der Lage, zuzuschauen und die köstlichen, bittersüßen Gefühle zu genießen, die sich einstellten, als Agathe an seinem Grab niederkniete, um es mit Tränen der Reue zu benetzen. Er stellte sich wieder und wieder vor, wie sie eines Tages zu Verstand kommen und vor seiner Tür stehen würde, um Verzeihung flehend, wie sie ihre Fehler einräumen und ihn zum Gebieter ihres Herzens erklären würde. Welche Freude, welch glücklicher Moment, wenn er sie dann endlich in seine Arme reißen konnte, um ihre Tränen wegzuküssen und sie zu seinem großen, alten Bett zu führen. Aber selbstjetzt, drei Jahre später, wusste Tibo immer noch nicht, ob diese Möglichkeit das Vergnügen aufwiegen würde, ihr einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Dabei war Agathe alles andere als reumütig. Kein einziges Mal flehte sie um Verzeihung, auch wenn Tibo überzeugt war, in ihren Augen so etwas wie Schmerz und Mitgefühl entdeckt zu haben, und niemals sprach sie ein persönliches Wort mit ihm. Das war ihr Geschenk an ihn, sehnte sie sich doch täglich danach, ihn zu streicheln und zu bemuttern und zu
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