Die Liebeslotterie
Walpurnia!»
Tibo suchte sich eine Beschäftigung. Es gab Seiten zu lesen, Seiten zu beschreiben, Seiten, die man lange Zeit betrachten und von hier nach dort schieben konnte, von einer Mappe zur anderen. Er griff nach einer Büroklammer, aber aus unerfindlichem Grund war die Schale auf einmal leer. Seine langjährige Erfahrung mit Schreibtischen hatte Tibo gelehrt, dass sich in jeder Schreibtischschublade in jedem Büro dieser Welt mindestens ein verstaubtes Pfefferminzbonbon, ein abgebrochener Bleistift, ein veralteter Zugfahrplan und eine Büroklammer befanden. Er schob seine Hand tief in die Schublade hinein, und ganz hinten, unter den beiden Werbekalendern der Reparaturwerkstatt Weltz vom Vorjahr, stießen seine Finger an ein vertrocknetes Stück Papier. Natürlich hatte er die Postkarten aus dem Museum längst vergessen, aber die Tüte zu berühren weckte die Erinnerung daran.
Es gab keinen Grund, die Tüte nicht herauszunehmen, keinen Grund, die Karte nicht zu betrachten, die, Tibo wusste es genau, darin steckte; es gab keinen Grund, nicht zu denken, was der Anblick der Karte einen denken ließ. Dennoch beschlich Tibo das Gefühl, es wäre ein Fehler – ein zügelloses Kratzen an der Wunde, von der er eigentlich die Finger lassen sollte. Deswegen log Tibo sich selbst an und gab vor, die raschelnde Tüte, inzwischen trocken wie ein Herbstblatt, nicht zu erkennen.
«Was das wohl ist», sagte er und hielt inne. Es war zwecklos, er hatte, abgesehen von sich selbst, keine Zuschauer, denen er etwas vormachen könnte, und sich selbst konnte er nichts vormachen. Mit zwei Fingerspitzen zog er die Postkarte heraus und ließ sie auf die Schreibtischunterlage fallen. Eine schöne Frau neben einer sprudelnden Quelle. Diana. Die zornige Göttin, aus deren Augen Feuer und Eis schießen.Agathe. Drei Jahre hatten ihr nichts anhaben können. Sie war unverändert, kein bisschen verblichen. Tibo seufzte. Er zerriss die Karte in zwei, dann in vier Stücke und warf sie in den Papierkorb neben seinem Sessel. Es sollte nichts übrig bleiben, beschloss er, kein einziges Beweisstück sollte überleben, nichts. Aber selbst nichts war etwas. Die Karte existierte durch ihre Abwesenheit kein bisschen weniger als hinten in der Schublade. So wie die Seife, die er einst gekauft hatte und die längst durch den Abfluss gespült worden war, so wie der längst verzehrte Türkische Honig, so wie die enttäuschenden, längst entsorgten Lotterielose. Selbst drei Jahre später war da eine Lücke, wo sie gewesen waren, so wie der Umriss eines Bildes, der sich in die Tapete gebrannt hat, beweist, dass hier etwas fehlt.
ETWA EINE STUNDE SPÄTER sagte Bürgermeister Krovic «Odaliske» genau in dem Moment, als Agathe an die Tür klopfte.
«Herr Cesare vom Goldenen Engel ist hier», sagte sie. «Er hat keinen Termin. Ich habe ihm gesagt, ich müsse erst nachschauen, ob Sie da sind.»
«Ich bin da», sagte Tibo.
Er stand auf, ging zur Tür und dachte, still und bei sich: Odaliske, Odaliske. Er ließ sich das fruchtige, runde «O» auf der Zunge zergehen, kostete den beißenden Hauch des «isk» aus und freute sich darüber, wie gut die Silben zueinanderpassten. «Frau Stopak, würden Sie uns bitte einen Kaffee bringen?»
«Nicht nötig – er hat welchen dabei.»
Cesares Kopf, brillantineschwarz und bläulich schimmernd, erschien im Türspalt. «Es ist Ihnen hoffentlich recht», sagte er und hielt Tibo einen rechteckigen Korb hin, der eine zugepfropfte, in Geschirrtücher eingewickelte Kanne und fast ein Dutzend Gebäckstücke enthielt.
«Und ob mir das recht ist!» Der Bürgermeister steckte die Arme zum Willkommensgruß aus. «Kommen Sie herein. Frau Stopak, ich glaube, wir brauchen Tassen und Teller.»
Agathe zog sich zurück und kam kurz darauf mit zwei Tassen wieder. Tibo bot Cesare den Sessel vor dem Schreibtisch an.
«Sie setzen sich nicht zu uns?», fragte Cesare, aber in seiner Stimme klang ein Hauch von Erleichterung mit. Agathe lehnte mit einem hübschen Lächeln ab und warf Tibo einen traurigen Blick zu.
Cesare hielt ihr den Korb hin. «Nehmen Sie ein Stück Kuchen. Nehmen Sie zwei. Für die Kaffeepause.»
Agathe zögerte.
«Ja, genau», sagte Tibo, «greifen Sie zu.»
Seine Ermutigung schien ihr die Entscheidung leichter zu machen. «Nein, danke», sagte sie und ging hinaus.
Der gute Bürgermeister Krovic und Cesare saßen für ein paar Momente nur so da, Cesare immer noch in halber Drehung und den Korb mit dem
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