Die Liebeslotterie
trösten. Aber sie tat es nicht, sondern verhielt sich stattdessen kalt und distanziert in der Hoffnung, es würde ihn kurieren. Das war es, was sie für ihn tat, und er verwechselte es mit Unfreundlichkeit.
Über ihr Leben außerhalb des Büros sprach Agathe mit niemandem, und mit Tibo schon gar nicht. Nie erwähnte sie die Wohnung in der Kanalstraße, Hektor und was er tat, nie sprach sie über das letzte Bild, das er unfertig aufgegeben hatte, oder das nächste, das er anfangen wollte, in Kürze, schließlich kann man so etwas nicht erzwingen, das war etwas anderes als Steine verlegen oder Milch ausliefern. Wenn Hektor eine Anstellung fand, schwieg Agathe. Sie schwieg, wenn er sein ganzes Geld ausgab und ihres dazu. Sie schwieg, wenn er seine Arbeit wieder verlor – und es dauerte nie lange, bis er seine Arbeit verlor. Sie ließ sich die beißende Enttäuschung nicht anmerken, die sich schon nach kurzer Zeit in ihrem Herzen eingenistet hatte und dort geblieben war. Sie war still und verschwiegen und diskret. Sie schützte sich damit, und aus reiner Höflichkeit bot sie diesen Schutz auch Tibo an, indem sie niemals nachfragte und stets so tat, als bemerke sie nichts. Sie war gefasst und rege und geschäftig, so schön und kalt und unveränderlich wie Marmor.
Und an jenem Morgen sah Agathe ganz besonders schön aus, als sie an die Tür zu Tibos Arbeitszimmer klopfte.
«Treten Sie ein, Frau Stopak», sagte er.
Beim Hereinkommen brachte sie einen Hauch von «Tahiti» mit und das Echo ferner Engelschöre, und als sie sprach, konzentrierte Tibo sich mit aller Kraft auf das winzige Muttermal über ihrer Oberlippe. Aber es nützte nichts. Sein Verstand wurde von unzähligen Gedanken überflutet. Agathe, wie sie ihm früher beim Mittagessen gegenübersaß. Agathe nackt. Agathe am Brunnen. Zwei Schnecken mit getigerten Häusern, die er auf dem Weg zum Leuchtturm gefunden hatte, wo sie von einem Grasbüschel zum nächsten krochen, ohne ihr Ziel zu sehen oder es sich auch nur vorstellen zu können, während sie über scheinbar endlose Kiesweiten krochen, über einen Pazifik aus Dreck, der sich bis zum Horizont erstreckte und den sie zu drei Vierteln bewältigt hatten, als Tibo sie aufhob und am Ziel absetzte. Agathe nackt. Agathe in der Schlossstraße. Agathe nackt. Ihr Geruch, ihre Stimme und wie sie sich am Tor zum Kopernikuspark an ihn geschmiegt hatte. Agathe nackt. Und warum? Was hatte das zu bedeuten? Wo lag der Sinn? Zwei Schnecken auf einem Kiesweg und sein Leben ohne Agathe – was könnte sinnloser sein? Warum war es ihm nicht einfach egal?
«Die Post von heute Morgen», sagte Agathe und legte eine Ledermappe vorsichtig auf den Schreibtisch.
Tibo sagte: «Danke.» Es kam ganz automatisch, er hatte es selbst nicht gemerkt, und hätte der Anwalt Guillaume ihn unter Eid ins Kreuzverhör genommen, hätte Tibo nicht mit Sicherheit beschwören können, was er gesagt hatte. «Schließ einfach die Augen und denk an etwas Schönes», sagte er zu sich selbst. Aber seine Augen waren offen. Es funktioniertenicht. «Zu sterben wäre ein fürchterlich spannendes Abenteuer» – ein dummer Gedanke reihte sich an den nächsten, und Tibo verfluchte den Büchereiausschuss seines Vorgängers. Wäre jene Peter Pan-Ausgabe nie angeschafft worden und hätte er sie nie gelesen, sähe sein Leben jetzt vielleicht besser aus. Oder auch nicht.
«Es ist doch bemerkenswert», sagte sie.
«Nein.»
«Ich spreche von der Post.»
«Ich weiß. Nein.»
«Es war nur, ich dachte … Na ja, ich wusste nicht, ob Sie …»
«Doch», sagte Tibo. Es ärgerte ihn, dass sie selbst jetzt noch in der Lage waren, die Gedanken des anderen zu lesen und die Sätze des anderen zu beenden.
«Ja. Natürlich. Verzeihung.»
Agathe legte eine zweite Mappe auf den Tisch. «Die heutigen Termine. Das Planungskomitee trifft sich um elf. Die Mittagspause ist frei …»
Wie immer, dachte Tibo.
«Um drei Uhr eröffnen Sie die neue Turnhalle der Mädchenschule am Westend.»
«Gibt es ein Band durchzuschneiden?»
«Und eine Turnvorführung. Dann steht nichts weiter an als die Vollversammlung des Stadtrats heute Abend. Die Tagesordnung liegt bei.»
«Danke, Frau Stopak», sagte Tibo und starrte angestrengt auf seine Schreibtischunterlage. Als Agathe sich nicht regte, wiederholte er das «Danke». Ohne den Kopf zu bewegen, hob er den Blick vom Schreibtisch, um Agathe hinterherzusehen. «Oh, du lieber Gott», flüsterte er, «oh heilige
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