Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
Vom Netzwerk:
zu denken. Sie arbeitete noch konzentrierter.
    Und dann war es ein Uhr. Ein einzelner, tiefer, gonggleicher Basston schallte durch die Stadt und scheuchte einen Taubenschwarm auf, der sich wie ein Strudel über dem Bischofspalast drehte. Mittagszeit. Tibo erhob sich vom Richterstuhl. Die Türen des Gerichtsgebäudes fielen krachend hinter ihm zu und wurden eilig von innen abgeschlossen.
    «Bürgermeister, haben Sie schon eine Verabredung zum Mittagessen?», fragte Yemko Guillaume.
    Tibo wollte irgendetwas über belegte Brote in seinem Büro sagen, war aber so erstaunt, dass er kein Wort herausbrachte.
    «In diesem Fall können Sie mich begleiten. Ich lade Sie ein. Mein Wagen wartet schon. Mein Wagen wartet immer.» Guillaume schob sich zur Seitentür hinaus und hinein in das wartende Auto, während der gute Bürgermeister Krovic hinterdreinschlurfte wie ein Schlepper, der ein riesiges Schlachtschiff aus dem Hafen schiebt. Guillaume wedelte mit der fetten Hand. «Bitte, lieber Bürgermeister, nehmen Sie doch vorn Platz. Ich mache mich gern ein bisschen breiter», keuchte er. «Der Fahrer kennt den Weg. Ich esse immer im Grünen Affen. Das ist Ihnen doch recht.» Daraufhin ließ er sich anscheinend sehr erschöpft in die beiden Sitze sinken wie ein einstürzendes Soufflé und sagte vorerst nichts mehr.
    Als Tibo mit Yemko Guillaume das Gerichtsgebäude verließ, überquerte Agathe auf ihrem Weg zum Bäcker den Rathausplatz. Es hatte sich bereits eine Schlange aus Angestellten und Verkäuferinnen gebildet, die für Brote, Kuchen und frische Pasteten anstanden, lautstark ihren Tag besprachen oder lachend mit der letzten Nacht prahlten. Agathe kniff die Lippen zusammen und weigerte sich zuzuhören.
    Schließlich, nachdem die Warterei ihr schon einen guten Teil der Mittagspause geraubt hatte, erreichte Agathe den Anfang der Schlange und bestellte ein Käsebrötchen und einen Apfel. «Das ist Raub, am hellichten Tag», murmelte sie, als sie ihr Wechselgeld zählte.
    Im Grünen Affen machte es sich Yemko Guillaume auf einer Chaiselongue in der Ecke bequem, woraufhin zwei Kellner in weißer Uniform mit preußischem Kragen und vergoldeten Knöpfen einen Tisch an seinen imposanten Wanst rollten. Der Oberkellner schaute zufrieden zu. Der berühmte Anwalt Yemko Guillaume und der ehrwürdige Bürgermeister Tibo Krovic aßen gemeinsam, hier, in diesem Lokal   … es war perfekt, einfach perfekt.
    «Keine Vorspeise», hauchte Yemko schwach. «Heute hätte ich gern   … ich hätte gern   … warten Sie   …» Er verdrehte die Augen himmelwärts und ließ den Blick auf den rosaschenkligen Nymphen ruhen, die äußerst schlüpfrig über das Fresko unter der Decke tanzten. «Ich hätte gern eine Speise, die genauso gut schmeckt. Eine junge Gazelle, bei Neumond von nubischen Jungfrauen garrottiert und in ihrer Muttermilch geschmort, serviert mit der letzten Schale Reis aus einem Dorf verhungernder Asiaten, gesüßt von den Schreien eines ausgesetzten Babys, das unter der erbarmungslosen Sonne verdurstet. Nein?» Er warf dem Oberkellner einen irritierten Blick zu. «Das haben Sie nicht? Dann nehme ich ein Omelett, bitte. Und Spargel. Und ein Glas Wasser. Bürgermeister?»
    «Das klingt gut», brachte Tibo heraus.
    Unterwürfig wie Eunuchen zogen die Kellner sich zurück.
    «Ich esse nicht viel», sagte Yemko. «Das hier   …», er breitete die Arme aus, um seinen Umfang anzudeuten, «liegt an einer Drüsenstörung.»
    «Ich verstehe», sagte Tibo. «Tut mir sehr leid.»
    «Weil ich krank bin oder weil Sie mich für einen nimmersatten Vielfraß gehalten haben?» Yemko schien jedem seiner Sätze eine hochgezogene Augenbraue hinterherzuschicken.
    Agathe saß derweil am Brunnen auf dem Rathausplatz und kaute am Rest ihres trockenen Käsebrötchens. Ich hätte zum halben Preis ein gutes Mittagessen zaubern können, dachte sie.
    Bevor sie ins Büro zurückging, eilte sie durch die Schlossstraße zu Verthun Smitts Eisenwarenladen mit der doppelten Fensterfront, um eine blauemaillierte Blechdose zu kaufen. «Von heute an bringe ich meine eigenen Brote mit», sagte sie und hastete zum Rathausplatz zurück.
    Beinahe im selben Moment hielt ein Wagen mit schwerer Schlagseite vor dem Gericht. Er geriet ins Schaukeln, als Yemko Guillaume sich heraushievte. «Nun trennen sich unsere Wege wieder», sagte er und umschloss Bürgermeister Krovics Hand mit seiner.
    «Warum haben Sie mich zum Mittagessen eingeladen?», fragte Tibo.
    «Weil Sie recht

Weitere Kostenlose Bücher