Die Liebeslotterie
Vollbart und rotem Hemd.
Mamma Cesare nahm den Kessel, entschuldigte sich – «Einen Moment, bitte!» – und huschte aus dem Zimmer.
Und nun war es an Agathe, zu tun, was jede andere in ihrer Lage auch getan hätte. Sie hüpfte ein paarmal auf dem Bett herum, erfreute sich an dessen lustigem Quietschen, bezwang ganz kurz ihr Verlangen, herumzuschnüffeln, und gab ihm – schließlich ist das Leben kurz und die Zeit kostbar – doch nach. Agathe war nicht der Typ Frau, der Schubladen öffnet und in fremde Schränke schaut, aber selbst unter höflichen Menschen gilt: Was auf einer Frisierkommode ausgestellt ist, das darf man auch anschauen.
Der Spiegel war leicht nach vorn gekippt, um ein Arsenal von Töpfen und Tiegeln auf der Kommode zu spiegeln. Es gab nichts Besonderes zu sehen, nur die üblichen, mit Maiglöckchenduft parfumierten Kleinigkeiten, die Frauen ab einem gewissen Alter zu Weihnachten geschenkt bekommen. Ein Porzellanschälchen mit Haarnadeln und klobigen Schmuckstücken, in einem winzigen Silberrahmen ein Foto. Als Agathe es in die Hand nahm, spürte sie den weichen Samt der Rückseite an ihren Fingerspitzen. Roter Samt. Fast verschlissen, als sei das Bild unzählige Male herumgereicht worden. Agathe konnte es sich vorstellen – die kleine, runzlige Frau, wie sie jeden Morgen und jeden Abend vor dem Spiegel sitzt, das Bild in die Hand nimmt und küsst. War es so? Agathe warf einen zweiten Blick auf den verschlissenen Samt und die Fingerabdrücke, die sich auf dem abgenutzten Flor abzeichneten. Es konnte nicht anders sein. Das Objekt war heilig. Eine Reliquie. Sie betrachtete das gerahmte Foto. Ein hochgewachsener, junger Mann, spindeldürr und mit rabenschwarzem,mit Pomade zurückfrisiertem Haar und einem Schnurrbart, so fein und akkurat, wie man ihn nur in fünfzehn Minuten atemlosen Hantierens mit der Rasierklinge oder in fünfzehn Sekunden mit einem Augenbrauenstift hinbekommt. Seine Wangen waren eingefallen. Seine Augen waren kohlrabenschwarz. Sie kündeten von einer Abstammung, die weit hinter schattige Olivenhaine bis zu phönizischen Tempeln reicht. Der Mann trug einen schweren, dreiteiligen Anzug. Der Stoff wirkte kugelsicher, aus der Westentasche baumelte eine Uhrenkette. Er hatte einen Daumen hindurchgesteckt, die Geste wirkte locker und verwegen angesichts seiner kerzengeraden Haltung und der Steifheit seines restlichen Körpers. Seine andere Hand ruhte auf der Schulter einer kleinen Frau, die vor ihm im Sessel saß – was viel weniger nach Bestätigung und Verbindlichkeit aussah als nach einem Polizeigriff. Er hielt sie fest, drückte sie hinunter, zwang sie in den Sessel, ob sie wollte oder nicht.
«Mein Ehemann», sagte Mamma Cesare und stieß die Tür mit dem Absatz zu. «Das ist Pappa. Mein Cesare. An unserem Hochzeitstag. Wir sind direkt nach der Trauung beim Bürgermeister zum Fotografen gegangen. Alle anderen mussten warten. So berühmt waren wir.»
Sie setzte den Kessel aufs Stövchen und verschüttete etwas Wasser auf dem Tablett, bevor sie den Docht der Spirituslampe anzündete. Ein gespenstisch blaues Flämmchen wiegte sich träge hin und her und zischte, bevor es schließlich zuverlässig brannte.
Die kleine Frau ließ sich auf das Bett fallen. Ihre Füße baumelten ein ganzes Stück über dem Boden. Sie streckte die Hand nach dem Bild aus und bedeutete Agathe, sich ebenfalls aufs Bett zu setzen, solange das Wasser brauchte, um zu kochen.
«Mein Cesare!» Sie küsste das Foto. «Was für ein Mann er war. Aii!» Mamma Cesare hopste, bis die Bettfedern quietschten. «Hörst du das? Quietsch, quietsch, quietsch. Achtundzwanzig Jahre lang waren wir verheiratet, und wir haben das Bett durchgelegen.» Sie hüpfte noch ein bisschen weiter. «Nicht, dass ich mich beschweren will. Was für ein Leben wir hatten! Du sollst ebenfalls solches Leben leben. Er war ein Mann. Ein richtiger Mann.»
Mamma Cesare betrachtete das Bild noch eine Weile, dann küsste sie es wieder und wandte sich Agathe zu, die neben ihr saß. «Ich weiß, was du denkst. Du schaust mich an und siehst kleine alte Frau. So eine alte Frau. Was weiß eine alte Frau schon von quietschenden Betten? Diese alte Frau» – sie presste sich das Foto an die Brust – «weiß eine ganze Menge über quietschende Betten, und noch besser: Sie weiß eine ganze Menge über die Liebe. Es gibt nämlich die Liebe, und es gibt Betten. Die Liebe ist gut, und Betten sind … sie sind … fantastico! Aber wenn man Liebe und
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