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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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sich um, wenn sie mit lautem «Huu-huu-huu» vorbeistolperte wie eine Kuh mit gebrochenem Bein. So lief sie fort, ihre Schuhe schlitterten über den rutschigen Gehsteig, das Schluchzen brannte ihr in der Kehle, und Rotz und Tränen verzerrten ihr Gesicht zu einer Maske, sie lief durch die Schlossstraße, über die Weiße Brücke, an dem Briefkasten vorbei, in den Tibo die Postkarte gesteckt hatte, und direkt in die Arme von Hektor, der sie mit einem «Uff» und einem gemurmelten Fluch begrüßte. Agathe sah ihn kaum. Sie prallte von ihm ab wie von einer Mauer oder der Tram. Sie beachtete ihn gar nicht, sie strauchelte nur kurz, trat einen Schritt zur Seite und wollte weiterlaufen. Aber kaum hatte sie einen Schritt getan – nicht einmal einen Schritt, ihr Fuß hing noch in der Luft   –, da hatte Hektor sie erkannt und sich bei ihr untergehakt.
    Agathe wirbelte herum wie eine Perle an einer Schnur, nur, um wieder mit Hektor zusammenzustoßen. Ihr Gesicht verschwand an seiner Hemdbrust, und das Revers seines Mantels klappte über ihr zusammen, während er sie mit beiden Armen umfing, sie aufhielt, aufrecht hielt. Sie jaulte immer noch.
    «Agathe!» Hektor klang erschreckt. «Agathe, hör auf! Was ist los? Was ist passiert? Bist du verletzt?»
    Agathe drückte ihr nasses Gesicht an sein Hemd.
    «Agathe, ist alles in Ordnung?»
    «Ja», schniefte sie und machte ein Geräusch wie ein verstopfter Abfluss.
    «Nein, das stimmt nicht.»
    «Doch, es stimmt. Lass mich los.»
    «Nein, ich lasse dich nicht los.»
    «Hektor, du brauchst mich nicht zu stützen.»
    «Ich lasse dich nicht los.»
    Hektor blieb stehen und wiegte sich sanft hin und her wie eine Ulme in einem Kornfeld, er atmete langsam und ruhig, bis ihre Atemzüge sich seinen anglichen, bis ihre Fäuste sich lösten und ihre Arme sich entspannten und ihn unter dem Mantel umfingen. «Es schneit», sagte er. «Wir sollten gehen.»
    «Ja, das sollten wir», sagte Agathe. Und so gingen sie davon, Arm in Arm und ohne ein Wort.
     
    Die Tram, die den Rathausplatz mit der Grünen Brücke verbindet und in einem Kreis über die Kirchenallee bis auf die Schlossstraße zurückführt, fährt so häufig wie keine andere in Dot. Hätten sie mit der Tram fahren wollen, wäre es ein Leichtes gewesen, eine zu finden, aber stattdessen liefen sie durch den Schnee, der die Bewohner von Dot längst nach Hause geschickt hatte, den Stadtlärm schluckte und über jeder Straßenecke einen neuen, verwirbelten Flockenvorhang senkte. Sie liefen dahin, ineinander verschlungen wie zwei Schlafwandler, bis sie den Anfang der Aleksanderstraße erreicht hatten und vom Klimpern des kaputten Klaviers im Gasthaus zu den Drei Kronen geweckt wurden.
    «Ich sollte jetzt hochgehen», sagte Agathe, ohne Hektor loszulassen.
    «Wirklich?»
    «Ich sollte hochgehen.»
    «Ist jemand zu Hause?»
    «Ich weiß nicht. Vielleicht. Wahrscheinlich nicht. Normalerweise nicht.»
    «Du kannst mit zu mir kommen.»
    Agathe stöhnte. «Nein, Hektor, kann ich nicht.»
    Er schwieg. Der Schnee fiel. Der Himmel war weiß.
    «Ich kann nicht, Hektor, ich kann nicht.»
    «Es schneit», sagte er, «immer noch. Es wird immer schlimmer. Ich muss jetzt nach Hause.»
    Agathe stand dicht vor ihm, die Knöpfe ihres Mantels berührten Hektors Hemd, sie hielt ihm ihr Gesicht entgegen mit gerecktem Kinn, hocherhobener Nase und geschlossenen Augen. Schneeflocken schmolzen auf ihren geöffneten Lippen; sie landeten auf der blassen Haut, um sich augenblicklich aufzulösen.
    Ihre Körper berührten sich an Bauch, Brust und Oberschenkeln, und Hektor versuchte, sie in seinen Mantel zu wickeln, um sie zu schützen und zu wärmen. Ihr Duft stieg ihm in die Nase. Sie wartete auf einen Kuss. Hektor küsste sie. Nicht zögerlich. Nicht flüchtig. Sie hatte keine Gelegenheit, empört zurückzuweichen. Er deutete nichts an, und er hatte keine Angst. Er brauchte sie nicht zu fragen, ob sie es wirklich wollte, denn er wusste es. Er küsste sie, und dann küsste er sie immer weiter, während dicke Schneeflocken sie umwirbelten und aus der Kneipe Klaviergeklimper und der Geruch von abgestandenem Bier herüberwehten.
    «Ist jemand zu Hause? Bei dir?», fragte sie.
    «Nein. Niemand. Nie.»
    Agathe zog ihn dichter an sich, sie legte ihre Hände an seinen Rücken und fühlte den Stoff seines Hemdes, fühlte seine Wärme. Sie drückte ihr Gesicht an ihn, an seinen Hals, seine Brust.
    «Nie?»
    «Nie, Agathe.» Er bedeckte ihr verschneites Haar mit kleinen

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