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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Schreibtischschublade ab und machte Feierabend. Von irgendwo aus dem braunen Flur kam das Klappern und Scheppern von Peter Stavos Putzeimer. Es klang so fern und traurig wie die Schreie des letzten Kranichs, der über den Ampersand gen Süden fliegt.
    An der Haltestelle sprach niemand ein Wort. Die Leute in der Warteschlange hüllten sich in ihren Mantel und zogen sich die Mütze ins Gesicht, um sich vor dem ersten Schnee zu schützen. Sie ignorierten einander, während der Wind an ihnen zerrte. Endlich kam aus der Dunkelheit die Tram angerauscht,hellerleuchtet wie ein Kreuzfahrtschiff mitten auf einem nächtlichen Ozean. Die Bahn hielt, die Warteschlange schob sich vorwärts, und alle Leute zwängten sich hinein – alle außer Tibo. Er stieg als Letzter zu und kletterte die Treppe hinauf, um ganz allein auf dem Oberdeck zu sitzen. Er wählte die vorderste Bankreihe und ließ sich breitbeinig, mit hochgeklapptem Mantelkragen und in den Taschen vergrabenen Händen auf seinen Sitz fallen. Während die Tram sich durch Dots Straßen schob, saß Tibo aufrecht im Fahrtwind.
    Die Leute in der hellerleuchteten Tram konnten hinter den schwarzen Scheiben nichts erkennen, aber Tibo beobachtete die vorbeiziehenden Gebäude und die Straßenlaternen, die so dicht über ihm hinweggingen, dass er die Hand ausstrecken und den Schnee herunterstreichen konnte, der sich dort gesammelt hatte. Er beobachtete Familienväter auf dem Heimweg und schaute durch geöffnete Haustüren in Zimmer, in denen Kinder spielten. Er sah warme Küchen, die Fensterscheiben vom Dampf der heißen Suppe beschlagen.
    An der sechsten Haltestelle erhob Tibo sich schwerfällig. Auf seinen Schultern hatte sich eine dünne Schneedecke gebildet, in der sich die Umrisse der Rückenlehne abzeichneten. Der gute Bürgermeister Krovic klonkerte die rutschige Metalltreppe hinunter und stieg rückwärts von der Bahn, die sich wieder in Bewegung setzte und langsam an seiner Straße vorbeiruckelte. Am Gartentor blies der Wind so heftig, dass die Glocke in der alten Birke beinahe, nur ganz beinahe, klingelte.
    Tibo sah die Glocke im Licht der Straßenlaterne schaukeln, und aus irgendeinem Grund kam ihm das Wort Trübsal in den Sinn. «Trübsal», sagte Tibo und tippte mit behandschuhten Fingerspitzen gegen den funkelnden Glockenrand. Sanft stieß er gegen den Schwengel. «Trübsal», wiederholte Tibo. Er hobdas kaputte Gartentor an und schob es an brüchigen Angeln auf. Der blaugekachelte Pfad war dabei, unter einer dünnen, rutschigen, nassen Schneeschicht zu verschwinden, und Tibo überquerte ihn vorsichtig und im Stelzschritt. Die Abdrücke seiner Sohlen im Schnee erinnerten an schwarze Bisse.
    Tibo machte sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Er lief durch den dunklen Flur bis in die Küche, streifte seinen Mantel ab und schüttelte ihn aus, sodass der nasse Schnee auf den Boden spritzte und zu schmelzen begann. Tibo stopfte seine Handschuhe in den Hut, den er neben dem großen Eisenofen ablegte, wo er bis zum nächsten Morgen warm und trocken werden würde. Und dann setzte er sich mit einem Holzbrett mit einem Kanten Schwarzbrot und einem Teller mit gelbem Käse an den Tisch. Tibo aß. Er las Zeitung. Er beschloss, schlafen zu gehen. Er lag im Dunkeln und hörte zu, wie der Wind sich legte und jener tiefen Totenstille Platz machte, die mit schweren Schneefällen einhergeht. Was hatte es zu bedeuten? Was könnte es zu bedeuten haben? Und dann war es Morgen.
    Tibo wischte das Kondenswasser vom Badezimmerspiegel und betrachtete sein Gesicht. Er wirkte plötzlich ein bisschen grau. Er tauchte den Rasierpinsel ins brühend heiße Wasser, schlug ihn aus und strich ihn über die Seife. Der Spiegel beschlug erneut. Tibo zog sich das Handtuch von der Schulter und rieb übers Glas.
    «Lebendig», sagte er. «Lebendig! Lebendig! Lebendig!» Dann so, wie Agathe es gesagt hatte: «Le-ben-dig.» Noch einmal, stumm und langsam: «Le-ben-dig, le-ben-dig.» Der Rasierpinsel rutschte ihm aus der Hand und landete klappernd im Waschbecken. «Le-ben-dig.» Verwundert starrte Tibo auf die Lippen des Mannes im Spiegel, die stumm «Ich liebe dich» sagten.

 
    NACHDEM AGATHE den Goldenen Engel verlassen hatte, rannte sie schneller durch die Schlossstraße, als man es jemals bei einer erwachsenen Einwohnerin von Dot gesehen hatte – sie rannte, als stünde sie in Flammen, und sie weinte und schluchzte, bis ihr die Schminke in öligen Schlieren übers Gesicht lief. Die Leute drehten

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