Die Liebesluege
blickte zu Poldy hinüber und stutzte. Weshalb schaute er so gebannt auf seinen Freund? War er neidisch? Eifersüchtig? Und wenn ja, worauf? Sie setzte sich neben ihn. »Seit wann bist du in Villa Rosa?«
Poldy zuckte richtiggehend zusammen. »Hast du mich erschreckt!«
Klar, du hast ja auch die beiden nicht aus den Augen gelassen , dachte Elena niedergeschlagen. »Ich habe gefragt, wie lange du hier bist.«
»Seit der fünften Klasse.«
»Gefällt es dir?«
»Man lebt. Es gibt schlimmere Orte. Abgesehen davon will ich unbedingt ein gutes Abitur machen - wenn es in meiner Macht liegt und ich die wohlwollende Unterstützung unseres wunderbaren Lehrkörpers erhalte. Kurz gesagt:
Ich bin ein Streber, im Gegensatz zu unserem allseits verehrten George Gordon.« Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören, während sein Blick auf dem Paar am Fenster ruhte.
Gordon lehnte lässig an der Wand und genoss sichtlich Charlys Aufmerksamkeit. Jetzt gerade lachte Charly, beugte sich wieder aus dem Fenster und warf dabei ihre langen rotblonden Locken mit Schwung zurück. Elena fing den Blick auf, den Poldy seinem besten Freund zuwarf: In diesem lag Abneigung und Widerwille, aber, so merkwürdig und unvereinbar ihr das erschien, auch eine ganze Menge Zärtlichkeit und Sehnsucht.
Plötzlich tönte ein Gong durchs Haus. Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen, Schritte polterten die Treppe herab, sie hörten empörte Rufe: »Was, du hast es nicht wieder mitgebracht? Ich bring dich um, du hirnloser Depp!«, »… hast das Bein gebrochen? O Shit!«, »Pass doch auf, du trittst auf meinen Schal, du Trampel!«, und einzelne Gesprächsfetzen: »Nee, wir waren in Davos …«, »… in Holland wird tatsächlich auch Fasching gefeiert?«, »… morgens und nachmittags Nachhilfe, ich sag dir, es war die Hölle!« Lachen - und dann fiel die Eingangstür mit einem lauten Wummm! ins Schloss.
»Wir sollten uns auch auf den Weg machen.« Poldy gähnte. »Mir ist recht flau im Magen; der Fraß, der uns erwartet, ist zwar nahezu ungenießbar, aber doch allemal besser, als Hungers zu sterben.«
»I love not Man the less, but vittels more«, zitierte Gordon frei nach Byron und stieß sich vom Fenster weg. Ganz selbstverständlich legte er seinen Arm wieder um Charlys Schultern; sie schüttelte ihn ab und hakte sich bei Elena ein. »Bedeutet der Gong, dass es jetzt Abendessen gibt?«
»So ist es«, bestätigte Poldy. »Wir werden uns umziehen müssen, also geht einfach schon mal voraus.«
Charly und Elena blieben stehen. »Treffen wir euch im Speisesaal?«
Poldy sprang bereits die Treppe hinauf. »Mag sein. Nun folgt erst mal den Fußspuren im Schnee, dem Lärm und dem Essensgeruch, und ihr landet unweigerlich an der Futterkrippe.«
»Wie ungalant du bist, Poldy! Wie wäre es, wenn die beiden auf uns warten würden?«
»Gordy! Ich bitte dich! Nun mach schon!«
Elena zupfte Charly am Ärmel. »Poldy hat was gegen uns, also komm.«
Kapitel 5
Professor Mori wartete am Eingang des Speisesaals. »Da seid ihr ja! Ihr sitzt an meinem Tisch.«
Ihr Ton duldete keinen Widerspruch. Und das, wo mich der Clochard-Pulli zur Aussätzigen stempelt , dachte Elena verzweifelt und stolperte Frau Professor Mori und Charly hinterher. Die blickte neugierig und selbstbewusst nach links und rechts, winkte Valerie und Swetlana ironisch zu, grüßte im Vorbeigehen Max, Jem, Victoria, Mia und Sophia-Leonie, nahm ganz selbstverständlich neben Professor Mori Platz und bedeutete Elena, auf den Stuhl zu ihrer Linken zu sitzen. Am Tisch hatten sich bereits zwei Lehrerinnen und ein Lehrer niedergelassen; sie lächelten Elena und Charly zwar freundlich an, aber sie stellten sich nicht vor.
Professor Mori erhob sich, nach und nach verebbten die Gespräche, sie wartete, bis sich jedes Gesicht im Raum ihr zugewandt hatte.
»Willkommen in Villa Rosa, willkommen im zweiten Halbjahr. Ich hoffe, ihr hattet schöne Ferien, seid gut erholt und freut euch auf die vor euch liegenden interessanten, erlebnisreichen Monate. Die Fünfer und Sechser gehen drei Wochen in unser Schullandheim in Frankreich, die Siebener machen eine Sprachenreise nach England, die Achter und Neuner werden Paris und Brüssel besichtigen, und die Zehner -« Madame Mori machte eine kurze, bedeutungsvolle Pause »- werden die traditionelle Wanderung
über den Pass absolvieren. Ihr alle wisst, dass das kein reines Vergnügen sein wird.« Stöhnen sowie schadenfrohes Lachen war zu hören.
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