Die Liebesluege
und euch die Pavillon-Story zu erzählen.«
Elena hätte dem Vorschlag gerne zugestimmt; es wäre eine super Gelegenheit gewesen, Max, den sie jetzt wirklich sehr sympathisch fand, besser kennenzulernen. Leider war Charly anderer Meinung.
»Danke.« Charly lächelte ihn an. »Vielen Dank, wirklich, aber wir haben was anderes vor.«
Im Vorfrühling war es um sechs Uhr ziemlich dunkel, außerdem schneite es an diesem Februarabend. Elena und Charly schlüpften in ihre Mäntel, Charly kramte in ihrem witzigen Stoffsack und holte eine recht große Taschenlampe heraus.
» Allzeit bereit und Selbst ist die Frau sind meine Mottos. Oder heißt der Plural von Motto Motti? Vielleicht sogar Motten wie Fliegen? Ist ja egal, Elena, jetzt gehen wir beide
auf die Pirsch. Ich liebe Pirschgänge durch unbekanntes Gelände. Die sind so unterhaltsam, findest du nicht auch?«
»Ich weiß nicht … warum wolltest du nicht, dass uns die fünf herumführen?«
»Na hör mal!« Charly war schon an der Tür. »Ich will doch erkunden, was mich interessiert, und nicht das sehen, was andere uns zeigen wollen. Könnte sein, sie lassen das Interessanteste aus. Okay, also was zuerst? Ich finde, weil es schon so dämmrig ist, schauen wir uns nur das Haus der Jungs an und sparen uns das Gelände für den Tag auf. Einverstanden?«
Am Schwarzen Brett in der Halle blieben sie stehen und lasen die Mitteilungen.
»Wir haben eine Bar im Haus? Das ist ja sehr erfreulich.« Charly schob ihre Hand unter Elenas Arm. Gerade glitt die Dämmerung in die Dunkelheit über, die Lampen entlang der Wege warfen gelbe Lichtkreise auf den Schnee, sie gingen am rechteckigen Schwimmbecken vorbei, das Charly mit Kennermiene auf fünfundzwanzig Meter Länge schätzte, und danach an einer Halle, in der kein Licht brannte und die abgeschlossen war. Dann standen sie schließlich vor dem Haus der Jungs, einem dreistöckigen Gebäude im Schweizer Stil mit Erkern und Balkons aus dunklem Holz.
»Wenn wir Mädchen in Villa Rosa wohnen, müsste das Haus der Jungs logischerweise Villa Hellblau heißen.« Charly sah sich nach Elena um. »Wollen wir?« Sie kicherte. »Ob die Schlafsäle haben?«
Die Halle war hoch und düster. Eine breite, mit einem roten Läufer belegte Treppe führte in einem weiten Schwung nach oben, und Elena und Charly vernahmen aus einem der Räume im ersten oder zweiten Stock leise Stimmen. Davon abgesehen war es so still, dass sie hörten, wie der Wind den Schnee gegen die Mauern fegte. Auf Zehenspitzen schlich Charly zu einer zweiflügligen Tür, die einen Spalt offen stand, sie drückte sie vorsichtig weiter auf und spähte in einen finsteren Raum, der von einem Feuer im Kamin nur wenig erhellt wurde. Elena trat neben sie und lugte über ihre Schulter.
Trotz der Kälte und des Schneetreibens stand ein Junge vor einem weit geöffneten Fenster; plötzlich hob er beide Arme und rief: » And Freedom’s fame finds wings on every wind. Chillon! Thy prison is a holy place -«
»Hör auf, George Gordon. Verschon uns mit deinem Lord Byron«, kam eine träge Stimme mit österreichischem Akzent aus einem der Sessel, die vor dem Kamin standen.
»Auch wenn er dein Namensvetter ist, hatte er nicht dich im Sinn, als er den Gefangenen von Chillon schrieb.«
Der Junge am Fenster ließ langsam die Arme sinken. »Was bist du doch für ein poesieloser Dumpfkopf. Hörst du nicht das Heulen des Windes? Das Klatschen der Wellen an die Mauern der Festung? Siehst nicht die weißen Flocken in der Düsternis der Nacht . O, ihr blicklosen Gestalten, ihr gefühllosen Deppen, ihr …«
»Ist ja gut, Gordy. Beruhige dich, du kannst jederzeit deine Koffer packen. Also halt den Mund, und bitte, schließ das Fenster, es ist affenkalt und der Wind weht den Schnee ins Zimmer.«
»Ach, alles umsonst! Warum Byrons Perlen vor die Sau werfen, die sich im süßen Sitz eines samtenen Sessels suhlt?« Der Junge schloss das Fenster. »Poldy, findest du nicht auch, dass es verdammt ruhig ist im Haus? Was ist geschehen? Sind wir die einzig Überlebenden? Sind unsere Mitgefangenen ihrem Martyrium erlegen? Hat ihnen die Tyrannei der Schule den vorzeitigen Garaus beschert?«
Charly hatte den Schalter ertastet und strahlte jetzt mit dem Licht um die Wette. »Falsch, ganz falsch. Wir beide stehen voll im Leben. Hey, wer seid ihr?«
Ihr Erscheinen hatte Poldy aus dem Sessel katapultiert und Gordon zum Fenster zurückweichen lassen. »Oh«, flüsterte er verzückt. » She walks in beauty, like
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