Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
Wasser. Das hätte ein Zeichen dafür sein können, dass sich die Handelsmacht Syfrien nicht unterkriegen ließ, aber die Schiffe waren mit hastig geschnürten Bündeln und Kindern mit leeren Augen beladen. Die Einwohner verließen die Stadt, auch wenn sie nirgendwohin gehen konnten. Weißhaven war in die Knie gezwungen worden.
Herbststürme waren im südlichen Syfrien nichts Ungewöhnliches. Warum aber war diese Serie so heftig gewesen und hatte so lange gedauert? Masen schaute hoch zum Himmel. Noch immer drückten die trüben Wolken auf die Stadt, noch immer war die Luft so schwer und feucht, als würde man Suppe atmen. Und noch immer fiel der Regen. Warm wie Tränen rann er an Masens Gesicht herunter. Die Wolken weinten angesichts der Verwüstungen, die die Flut zurückgelassen hatte.
Der Schiffer wendete sein Boot geschickt, um dem vergoldeten Skelett auszuweichen, das einmal eine Lustbarke gewesen war, dann bog er rechts in das Kaiserwasser ein. Vertäupfähle schwankten wie betrunken hin und her; ihre Bemalung war verblichen, und die einst schicken Boote, die an ihnen festgemacht waren, waren nur mehr Feuerholz. Zersplitterte Balken stachen aus dem trüben Wasser wie Knochen aus einem Suppentopf. Sogar die Kormorane, die auf den Kanälen lebten wie in anderen Städten die Tauben, waren verschwunden. Masen schloss die Augen. Er konnte den Anblick nicht länger ertragen.
Er öffnete sich dem Sang, durchstöberte die Farben der Stadt und suchte nach einem vertrauten Muster. Unter den verbliebenen Einwohnern befanden sich mehrere bisher unberührte Begabte, aber es war nicht das strahlende Kaleidoskop, das er suchte. Er stellte bei anderen Wirten und bei einigen Händlern im Viertel der Juweliere diskrete Nachforschungen an, aber zumeist erntete er nur leere Blicke und ein Schulterzucken. Niemand schien zu wissen, wo sich ein Silberschmied namens Orsene aufhielt – nicht einmal die Ladenbesitzer rechts und links von seinem Geschäft. Dessen Tür war eingetreten, die Werkstatt war geplündert, und die Wohnung darüber zeigte Anzeichen eines hastigen Aufbruchs. Niemand konnte sagen, wann Orsene zuletzt gesehen worden war.
An der äußersten Spitze des Tiefseehafens dankte Masen dem Ruderer und kletterte über eine Leiter an Land. Nicht ein einziges hochseetaugliches Schiff. Arbeiter bewegten sich um eines oder zwei herum, die am wenigsten beschädigt waren, aber in ihrem Hämmern und Sägen lag etwas Planloses, als ob sie in diesen Reparaturen keinen Sinn sähen. Sie schauten nicht einmal auf, als Masen an ihnen vorbei auf die längste Pier ging. Er musste über zersplitterte Planken und herabgestürzte Masten klettern, und seine Füße drohten sich in der Takelage zu verfangen. Zerstörte Schiffe schlugen knirschend gegen den Steg, aber Masen ging weiter auf das steinerne Gebäude am Ende der Pier zu, wo der westliche Leuchtturm stand. Die hübsche Kuppel war zerschmettert, und die kunstvoll verzierten Metalleinfassungen waren nur noch Schrott, aber Masen stieg dennoch die regennassen Stufen bis zur Spitze hoch und schaute auf das Meer hinaus.
Das war der westlichste Punkt, den er hatte erreichen können, und er war nicht annähernd weit genug gekommen. Aber jeden Tag zur zehnten Stunde ging er hierher und hielt nach einem Schiff Ausschau, das ihn weiterbringen konnte, auch wenn er jeden Tag nichts anderes als Regenwolken am Horizont sah. Er schloss die Augen und streckte seine inneren Fühler nach dem Sang aus.
Er kam so eifrig zu ihm wie immer, pulsierend und lebhaft und trotz des Todes um ihn herum frisch und unberührt. Masen umfasste den Sang und schickte sein Bewusstsein so weit wie möglich über die trüben grauen Wellen und ihr schreckliches Treibgut hinaus.
Drei Meilen, vier – nichts. Mit etwas mehr Anstrengung schaffte er sechs Meilen, hinter den Horizont und in die Tiefseerinnen hinein, die von den größeren Kaufmannsseglern bevorzugt wurden, aber nichts regte sich auf dem Meer. Er biss die Zähne zusammen, versuchte es weiter draußen, dehnte seine magere Gabe noch eine halbe Meile aus und noch ein wenig, so weit wie möglich. Nichts, nichts, nichts .
Wo waren all die Schiffe? Weißhaven war der geschäftigste Hafen an der gesamten Südküste. Hier sollten Seidenboote und Gewürzschiffe aus der Wüste und Perlenfischer von den Maling-Inseln sein, denn der Perlenmarkt bei Sankt Caterin war der zweitwichtigste nach dem in Abu Nidar. Sie konnten doch nicht alle im Sturm untergegangen sein?
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