Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
nicht mehr. Ja, an manchen Stellen hatte es Risse gegeben, kleine Lücken, durch die ein wenig von dem Verborgenen Königreich in die Welt eingedrungen war, so wie ein alter Sack ein paar Weizenkörner auf den Boden durchließ, aber diese waren leicht aufzufegen, und der Sack war einfach zu flicken. Seit Masen zum Torwächter geworden war, hatte er nichts Vergleichbares gesehen. An dieser Stelle wurde das Gewebe des Schleiers dünn.
Er betrachtete eingehend das Messer des Jägers. Es war lang und schmal; die Klinge bestand aus eisblauem Licht und trug eingeritzte Sigille. Während er sie ansah, verblassten sie bis zur Unleserlichkeit, und das Messer löste sich in Rauch auf. Der Druck gegen seine Handfläche war verschwunden.
Mit dem Sang tastete Masen das schlüpfrige Gewebe der Grenze nach einem Riss ab. Es waren keine Fäden durchschnitten, aber dort, wo das Messer eingedrungen war, befand sich eine Erhebung wie von einem Brombeerdorn im Gewebe eines Hemdes. Langsam und vorsichtig webte Masen die zarten Fäden des Sangs zusammen und glättete den Stoff wieder. Sein tanzendes Licht verschwand, als er von dem Schleier zurücktrat.
Zu seinen Füßen regte sich der Hirsch. Er atmete nun regelmäßiger, aber die Augen standen noch weit offen und starrten hinüber zum Ufer. Beherzt nahm Masen das Netz von ihm und wob es neu zu einer Fangleine zusammen. Der Hirsch kämpfte sich auf die Beine und machte einen heftigen Sprung, wurde aber an den Hinterläufen gehalten, und seine gespaltenen Hufe schlugen durch die Luft.
»Ganz ruhig, mein Prinz.« Masen hob die Hand und wollte das Gesicht des Tieres streicheln, aber sofort schoss das Geweih auf ihn zu. »Ich verstehe, ich verstehe«, sagte er besänftigend. »Du willst nicht hier sein. Du hast Angst, bist ganz allein und findest den Weg zurück nicht. Du kannst das Tor von dieser Seite aus nicht spüren, oder? Nicht aus so großer Entfernung.«
Der Hirsch schnaubte; Speichel tropfte aus seinem Maul. Sein Fell zuckte und zitterte; er wollte fliehen. Während ihn die Fangleine festhielt, stimmte Masen in seiner Kehle einen Sang an. Es war eher ein Summen, nicht so klar wie gesprochene Worte. Die Melodie breitete sich aus und wob sich zwischen die winterkahlen Bäume, als ob sie ein lebendiges Wesen wäre – was sie in gewisser Weise tatsächlich war. Ihr Rhythmus gehorchte keiner förmlichen musikalischen Gepflogenheit, sondern erinnerte eher an das Fließen von Wasser oder an Blätter in einer Brise. Sie veränderte sich andauernd, ohne sich je zu wiederholen, blieb aber in gewisser Weise immer gleich. Viele Jahre der Übung waren nötig gewesen, um die erforderlichen Atemtechniken zu erlernen, doch in seinem Ursprungsland war diese komplexe Melodie bloß ein Schlaflied, das eine Mutter über der Wiege sang.
Der Hirsch richtete die Ohren auf und drehte sie, um den Klang einzufangen. Die blauschwarzen Augen richteten sich auf Masen, und das Tier kämpfte nicht mehr gegen seine Berührung an.
»Siehst du, das ist schon besser. Jetzt schicken wir dich nach Hause, mein Prinz. Die Königin wird sich bereits nach dir sehnen.« Er trat auf den Felsen mitten im Fluss und ließ die Leine etwas lockerer. Der Hirsch sprang über das Wasser ans Ufer, von wo er zu Masen zurückschaute, als ob er ihn fragen wollte, warum er so lange brauchte. Lachend sprang Masen ebenfalls ans Ufer, und Seite an Seite liefen sie in den Wald hinein.
Das Tor war nicht weit entfernt. Die Schwelle kitzelte Masens Bewusstsein und zerrte an dem Nagel in seiner Hosentasche. In diesem Gebiet gab es mehrere Tore; er hatte sie vor langer Zeit kartografiert. Dieses hier war eines der höchstgelegenen; es befand sich an der Flanke der Brindlingberge. Er hatte noch nicht die Notwendigkeit gesehen, sie zu versiegeln – nicht so weit draußen. Obwohl der Boden im Tal fruchtbar und gut bewässert war, hatten nur wenige Menschen versucht, sich in dieser Region niederzulassen, und die Ruinen der Gehöfte all jener, die dabei gescheitert waren, lagen verstreut in der Ebene unter ihm.
Zu viele Geister. Geister aus toten Königreichen, aus alten Schlachten drangen aus dem Boden wie Feuerdampf. Verrat und Verzweiflung hingen in der Luft, verdarben den Schlaf der Menschen und machten ihre Haare grau, bis sie eines Tages all ihre Habe auf einen Wagen luden, die Felder verließen und in die Wildnis zurückkehrten. Diese Ebene war so fruchtbar, weil sie vom Blut der Jahrhunderte durchtränkt war.
Zuerst Slaine, wenn
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