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Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1

Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1

Titel: Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elspeth Cooper
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man der Legende glauben durfte, und dann der Stadtstaat Milanthor, der die gesamte nördliche Ebene für sich zu beanspruchen versucht hatte. Seine hundert Türme waren nun nur noch Krähennester. Und dann Gwlachs Armee, östlich und südlich von hier. Bei der Riannen-Schlucht hatten die Ritter sie schließlich besiegt und zu einem blutigen Rückzug über den Pfeifer-Pass gezwungen. Die Nachtluft war von ihren Schatten bevölkert.
    Masen kletterte den immer steiler werdenden Hang hinauf und zog sich an vorstehenden Wurzeln und herabhängenden Zweigen vorwärts. Er beneidete den Hirsch um dessen Geschmeidigkeit; seine zarten Hufe fanden zwischen den Felsen auch dort noch Halt, wo Masens klobige Stiefel nicht mehr hinpassten. Ein müdes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Hab etwas Geduld mit einem alten Mann, mein Prinz.«
    Der Hirsch schnaubte. Wer würde hier wen bezwingen?
    Auf dem Hügelkamm wuchsen keine Krüppelkiefern mehr; auf dieser Höhe war das Land vollkommen kahl. Links erhoben sich die Brindlingberge bis zu den höchsten Gipfeln und den Fjordain dahinter, die ihre weißen Häupter in den Wolken und die Füße im Meer hatten. Rechts fiel der Hügelkamm zum Wald und schließlich zur Ebene ab. Der scharfe Wind, der den kommenden Schnee ankündigte, brachte auch das donnernde Grollen niederstürzenden Wassers mit.
    Neben Masen zog der Hirsch weiter voran; die Leine schnitt sich deutlich in sein Fell ein.
    »Hier bist du durchgekommen, nicht wahr?«, fragte Masen. Er ließ die Leine noch etwas lockerer, und das Geschöpf lief so weit voraus, wie es ihm möglich war; es hatte den Blick fest auf den unsichtbaren Wasserfall gerichtet.
    Masen würde das Tor hinter ihm versiegeln müssen. Er durfte nicht das Risiko eingehen, dass sich das Tier an diese Welt als Zufluchtsort erinnerte, wenn die Jagd begann. Es war ihm nicht erlaubt, nach Belieben hierher zurückzukehren. Dies würde das Gleichgewicht stören, es sei denn, etwas von hier würde im Gegenzug in das Verborgene Königreich eindringen, und das war bestenfalls höchst gefährlich. Kleine Dinge, unbelebte Gegenstände wie Steine oder Zweige, konnten von dem einen Reich in das andere wechseln, ohne dabei Schaden zu nehmen, aber bei einem großen Tier war das eine ganz andere Sache.
    Außerdem war der Hirsch eine Kreatur mit großer Macht. Seine Gegenwart lastete auf der Welt; Masen spürte sie wie Steine in seiner Tasche. Wenn er mithilfe des Sangs auf das Tier schaute, bestand es aus blauweißem Licht sowie kalter, ungestümer Musik – ein gefrorener Energiefluss, der alles in seiner Nähe verzerrte. Es gehörte nicht hierher – niemals.
    Masen ging zum Rand und warf einen Blick auf den tosenden Fluss. Er kannte seinen Namen nicht. Falls er je einen besessen hatte, so war er zusammen mit dem Kartografen, der seinen Lauf verzeichnet hatte, zu Staub zerfallen. Grauweißes Wasser schäumte eine enge Schlucht entlang, deren steile Wände mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren. Ein schmaler, kaum sichtbarer Pfad führte dort, wo der Fels zu einigen flachen Stufen zerbrochen war, zum Ende der Klamm, das noch etwa hundert Schritte entfernt war. Dort öffnete sie sich, und der Fluss stürzte in die Tiefe und wurde vom Wind zu Regen zerstäubt, lange bevor das Wasser den Boden erreichte.
    Das war vermutlich der Jägerfall. Es kam selten vor, dass die Landschaft des Verborgenen Königreichs mit jener der Tagwelt übereinstimmte. Für gewöhnlich war sie nur ein Widerhall, von Zeit und Ferne verzerrt, bis sie kaum mehr erkennbar war. Die Wälder waren entweder älter oder jünger und für die Wesen, die in ihnen lebten, so umgestaltet, dass sie möglichst angenehm für sie waren. Flüsse änderten ihren Lauf oder wurden zu Seen, oder sie trockneten ganz aus. Gelegentlich gab es Übereinstimmungen an Orten wie diesem hier, wo sich die beiden Reiche überschnitten, und dann waren da noch die Tore.
    Masen schritt vorsichtig den Pfad entlang, und der Hirsch trottete unter Hufgetrappel hinter ihm her. Er musste näher an den Wasserfall herankommen, wenn er auf das Tor stoßen wollte. Das hier schien der einzige Weg zu sein, und das schlüpfrige Eis war unbarmherzig. Also musste er langsam gehen. Schritt für Schritt stieg er behutsam in die Klamm hinab.
    Der Lärm des Flusses trommelte auf seine Ohren ein, von den Felswänden verstärkt. Nadelspitze Gischttropfen stachen ihm ins Gesicht und durchnässten seine Kleidung. Er hörte, wie der Hirsch hinter ihm

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