Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
flüsterte Bredon unter dem rastlosen Gemurmel der aufmerksamen Ältesten.
»Ich habe ihn zu seiner eigenen Sicherheit aus Dremen fortgeschickt.«
»Das reicht mir.« Der Hohe Vorsteher erhob die Stimme. »Bleibt stehen, Männer.«
»Was soll das? Verhaftet ihn!« Goran zeigte mit dem Finger auf Ansel. »Ihr seid am Ende. Habt Ihr mich verstanden? Ihr habt Euch nur aufgrund Eurer Kriegstaten schon viel zu lange an dieses Amt geklammert. Ihr hättet schon vor Jahren zurücktreten sollen.«
»Wenigstens kann ich auf meine Erfolge im Krieg stolz sein«, erwiderte Ansel. »Aber wo warst du, als die Feuer brannten, Goran? Wo warst du, als die Legionen in Samarak gegen einen Feind angerückt sind, der doppelt so zahlreich war, und als die Pfeile so dicht an dicht durch den Himmel flogen, dass sie den Mittag zur Nacht gemacht haben? Du hast es dir auf den Ländereien deines Vaters gemütlich gemacht wie eine Henne auf ihrem Nest, nicht wahr?«
Ein heiseres Husten begleitete die letzten Worte, aber Ansel konnte jetzt nicht mehr aufhören. Sein Blut befand sich in Wallung wie seit den Wüstenkriegen nicht mehr, als sein Leben von Stahl und einem starken Pferd abhing. Er wischte sich mit dem Handrücken die Feuchtigkeit von den Lippen.
»Ich war da.« Eine Hand zupfte ihn am Ärmel, aber Ansel schüttelte sie ab. »Im Blut und im Schlamm und im Gestank und bei den Fliegen. Ich war da, weil ich einen Eid geschworen habe, den Glauben mit Körper und Seele zu verteidigen, auch wenn es mich das Leben kostet. Ihr alle habt denselben Eid geschworen, als ihr in den Orden aufgenommen wurdet. Und was ist aus euch geworden?«
»Der Orden hat sich seit den Wüstenkriegen verändert, Ansel«, erwiderte Goran. »Unsere Gemeinschaft schrumpft, und der Glaube schwindet. Schwerter und Rosenkränze reichen nicht mehr aus. Wenn wir diesen Niedergang aufhalten wollen, brauchen wir eine neue Hand am Ruder und eine neue Stimme, die die Gläubigen anzieht.«
»Und du bist der Meinung, dass diese Stimme die deine ist? Du glaubst, du hast den Schneid, auf diesem Stuhl zu sitzen?«
Ansel streckte die Hand aus und zeigte auf den Sitz des Präzeptors. Dabei bemerkte er rote Schlieren auf seiner Haut, die sich bis zum brokatbesetzten Ärmelaufschlag fortsetzten. Ein weiterer Hustenanfall geißelte seine Lunge, und er geriet ins Taumeln. Wenn Selsen ihm nicht unter die Arme gegriffen hätte, wäre er gestürzt.
»Allerdings. Sieh dich doch nur an«, höhnte Goran, der nun jeden Respekt fahren ließ. »Du stirbst, alter Mann. Geh hinaus auf die Weide, wo du hingehörst.«
Unter Mühen richtete sich Ansel auf. Der metallische Geschmack des Blutes erfüllte seinen Mund, und er spuckte auf die Marmorfliesen aus.
»Ich bin genau dort, wo ich hingehöre«, sagte er und quälte sich dabei durch jedes einzelne Wort. »Bis zu meinem letzten Atemzug, bei Eiche und Göttin! Wofür stehst du, Goran, dass du so viel besser zur Führung geeignet wärest als ich?«
»Es ist vorbei, Ansel! Wir haben für einen neuen Präzeptor gestimmt. Richte dich danach!«
»Die Wahl ist ungültig, Ältester Goran«, krächzte der Schreiber.
»Was?«
»Sie ist ungültig.« Der Bruder Chronist drückte seine Papiere gegen die Brust wie einen Schild, um die starren Blicke der anderen abzuwehren. »Wir waren nicht beschlussfähig.«
»Es waren vierundfünfzig Namen dagegen, Mann!«
»Ja, aber jetzt sind zweiundachtzig Älteste anwesend«, beeilte sich der Schreiber zu sagen und schrumpfte in seiner Robe unter dem Gewicht der bösen Blicke zusammen. Tercel und Morten neben ihm nickten.
»Zähl noch einmal«, befahl Goran.
»Die Zählung ist korrekt. Der Älteste Tercel hat es mir bestätigt. Nach dem vierten Zusatzartikel zum Kurienrecht, wie es durch die Große Ratsversammlung erlassen wurde, erhält in Zeiten der Not der Hohe Vorsteher alle Rechten und Pflichten eines vollwertigen Ältesten des suvaeonischen Ordens.« Die Stimme des Chronisten wurde zu einem Flüstern, das allerdings in der plötzlichen Stille der Halle so laut klang wie ein Schuss. »Achtundzwanzig gegen vierundfünfzig bedeutet, dass die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zustande gekommen ist.«
Einen Herzschlag lang herrschte noch Ruhe, doch dann erhob sich ein Aufruhr in der Ratshalle.
36
Alderan umfasste den Sang und verschmolz seinen Geist mit dem Netz. Gair hatte recht; hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Das feste Gewebe, das ihn umgab, verrutschte, und es entstand eine Schwachstelle.
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