Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
überragte ihren schmalen Falken bei Weitem. Ohne ein weiteres Wort warf sie sich in den Wind, und er musste ihr sofort folgen, wenn er sie nicht zwischen den unzähligen Giebeln und Kaminen des Kapitelhauses verlieren wollte.
Aysha segelte so natürlich durch die Luft, als wäre sie zeitlebens ein Vogel gewesen. Geschmeidig stieg sie in der warmen Luft auf, und obwohl Gair nach einem Jahrzehnt der Übung seine Adlergestalt so selbstverständlich trug wie seine eigene Haut, war ihm der Falke mit seinen schmalen Flügeln in dem durch die Dächer begrenzten Raum überlegen, und er hatte Mühe, Aysha zu folgen. Unter offenem Himmel hätte er sie aufgrund seiner schieren Kraft und Ausdauer geschlagen, aber sie war wendiger, und deswegen musste er sich sehr abmühen.
Als sie endlich die Gebäude hinter sich gelassen hatte, flog sie geradewegs nach Westen in Richtung Meer. Über dem Wasser lag Dunst und vernebelte den Horizont, aber in der Nähe des Ufers war die Luft so klar wie Kristall. Sonnenlicht glitzerte und schimmerte auf den Wellenkämmen, und graue Möwen trieben in der Brise auf der Suche nach Nahrung. Ayshas Erscheinen inmitten ihres Schwarms verursachte großes Entsetzen unter ihnen. Kreischend umkreisten sie Aysha und wollten sie vertreiben, doch sie schlug nur mit den Flügeln und war schon weitergeflogen. Gair hatte nicht so viel Glück und machte mit den harten Möwenschnäbeln Bekanntschaft, bevor er ihnen entkommen und seiner Meisterin über die Klippen folgen konnte.
Aysha führte ihn im Bogen mehr oder weniger dicht an der zerklüfteten Küstenlinie entlang zur Nordseite der Insel und dort in eine Bucht, die kaum mehr als eine Delle in der Flanke der Insel darstellte. Sie reichte gerade für ein paar Fischerboote aus. Der kleine Strand wurde von einer Steilküste gesäumt, die die Wärme des Tages speicherte.
Aysha kreiste abwärts, landete auf dem goldenen Sand und nahm wieder ihre ursprüngliche Gestalt an. Er landete neben ihr und wartete auf den nächsten Teil der Lektion, aber sie setzte sich nur mit dem Rücken gegen einen der garbengroßen Felsen. Als sie sah, dass er noch stand, klopfte sie auf den Sand neben sich und bedeutete ihm damit, sich ebenfalls niederzulassen. Er gehorchte.
»Du fliegst gut«, sagte sie. »Hast du dir das selbst beigebracht?«
»Ja.«
»Das Gestaltwandeln ist eine seltene Gabe. Wie hast du davon erfahren, dass du sie besitzt?«
»Rein zufällig. Ich hatte einen Feueradler über einer Schlucht beobachtet und mich gefragt, wie es wohl ist, so im Wind dahinzuschweben, und einen Augenblick später befand ich mich bereits in der Luft.« Gair hob ein schwarzes Stück Blasentang vom Sand auf und schob es zwischen seinen Fingern hin und her. »Ich hatte so große Angst, dass ich aus dem Himmel gefallen und in einem Stechginsterbusch gelandet bin.«
»Wie alt warst du damals?«
»Knapp elf. Es war der Sommer, in dem ich die Musik zum ersten Mal gehört hatte.«
»Und du hattest keine Ahnung, was du getan hattest?«
»Überhaupt keine. Ich hatte den Adler beobachtet und eine neue Melodie im Sang gehört, hoch und wild und einsam. Ich habe danach gegriffen und …« Und der Sang hat mich in eine neue Gestalt gegossen wie Wasser in ein Glas .
»Und du bist geflogen.«
»Ja, ich bin geflogen. Nicht sehr weit – aber ein paar Sekunden lang habe ich gewusst, wie es sich anfühlt.«
»Wie?«
»Das wisst Ihr doch. Ihr könnt schließlich auch fliegen.«
»Ich weiß nicht, wie es sich für dich angefühlt hat.«
Gair senkte den Kopf und drückte den Daumennagel in eine Blase des Seetangs. »Ich habe mich frei gefühlt.«
»Hast du jemandem davon erzählt?«
»Nein. Bis ich an meinem ersten Tag im Kapitelhaus geprüft wurde, wusste niemand davon.«
»Ich hatte den Eindruck, dass Alderan sehr überrascht war.« Sie schenkte ihm wieder dieses verwirrende Lächeln und fuhr mit den Fingern durch den Sand. »Der Sang kommt oft auf diese Weise zu den Menschen, wenn es etwas gibt, was sie unbedingt haben wollen oder brauchen und sie sich dafür ganz öffnen. Oder wenn sie vor etwas fliehen wollen. Alderan hat mir gesagt, dass du ein Waisenkind bist.«
»So ungefähr«, sagte Gair. »Ich weiß nicht, wer mein Vater ist; vermutlich war er irgendein Soldat. Meine Mutter hat mich ausgesetzt, als ich ein paar Tage alt war.«
»Und die Familie, die dich gefunden hat, hat dich aufgenommen?«
»Es gab immer das eine oder andere Pflegekind in ihrem Haus – verwaiste Kinder von
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