Die Lieferung - Roman
zum Beispiel bei Sorgerechtsstreitigkeiten, oder weil jemand die Eltern erpressen will. Wenn es sich aber um die andere Kategorie
handelt, die nicht persönliche …« Er zögerte, so dass sie ihn auffordern musste weiterzureden.
»Was dann?«
»Dann will jemand einfach irgendein Kind. Egal welches.«
Er sagte es noch immer nicht direkt, aber sie verstand genau, was er meinte. Sie wusste, dass Kinder verkauft wurden wie Frauen. Ein leises, verzweifeltes Jammern kam über ihre Lippen. Esu kaltas, esu kaltas, esu labai kaltas. Das ist alles meine Schuld. Verzweifelt versuchte sie, die Bilder zu verdrängen, die in ihrem Kopf auftauchten. Sie konnte, sie wollte Mikas nicht in den Händen solcher Menschen sehen.
»Bitte, finden Sie ihn«, flehte sie und brach wieder in Tränen aus.
»Wir werden es versuchen«, sagte er. »Aber wir wollen einfach hoffen, dass Mikas zur ersten Kategorie gehört. Die tauchen in der Regel wieder auf.«
Wieder sagte er es nicht direkt, doch sie hörte die unausgesprochenen Worte laut und deutlich: Die anderen finden wir nie.
Eigentlich hatte sie keine Zeit.
Es fühlte sich falsch an, diese Möglichkeit überhaupt jetzt in Betracht zu ziehen, aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und so brauchte Nina im Moment wenigstens ein weißes T-Shirt, Shorts und ein paar Flip-Flops in passender Größe, wollten sie und der Junge noch eine Weile unsichtbar bleiben und in Frieden gelassen werden.
Nina überflog die Schaufenster im Stationsvej und fluchte leise. Es lagen nicht viele Geschäfte an der Straße, und die wenigen, die es gab, hatten bereits geschlossen. Da entdeckte sie etwas weiter entfernt gleich zwei Läden mit Kinderkleidern. Beide der etwas exklusiveren Art, eines hatte sogar einen französischen Namen - La Maison Des Petites. Draußen hingen bunte Strampelanzüge in den aktuellen 70er-Jahre-Retrofarben, aber im Fenster sah sie auch eine Schaufensterpuppe in passender Größe. Der Laden hatte noch geöffnet. Kvickly wäre sicher besser und billiger gewesen, aber bis jetzt hatte sie erst zwei Supermärkte gesehen und hatte nicht die Zeit, noch länger zu suchen. Der Junge lag wie eine kleine tickende Zeitbombe auf der Rückbank, und es würde schon schwer genug sein, mit einem kleinen schreienden Dreijährigen an der Hand herumzulaufen, wenn er Kleider trug. Nackt war diese Aufgabe jedoch vollkommen unmöglich. Es kam darauf an, mit der Umgebung zu verschmelzen und die Details im Blick zu behalten. Das war die Überlebensregel Nummer eins.
Sie bog in den Olgasvej ein und parkte den Fiat zwischen
zwei anderen Autos am Straßenrand. Dann drehte sie sich rasch um und zog die Decke ganz über den Jungen, der allerdings bereits wach und lebendig wirkte und sich die Decke wie im Reflex vom Gesicht zog. Nina sah sich um. Es war ein heißer Tag, und die Mehrzahl der Einwohner von Vedbæk hatte sich anscheinend bereits ans Meer oder in ihre schattigen Gärten zurückgezogen. Trotzdem waren noch immer Leute auf der Straße. Auf der anderen Straßenseite erblickte sie eine ganze Familie. Der Vater mit viel zu langen, dünnen Beinen und einer kurzen Shorts. Die Mutter in einem weißen Sonnentop mit verbrannten Schultern und zwei kleinen Kindern an der Hand, die sich durch zwei große Waffeleis knabberten, während die Erwachsenen sich unterhielten. Auf ihrer Straßenseite sah sie etwas entfernt einen älteren Mann, der einen übergewichtigen Basset ausführte, und eine Gruppe Teenager, die gerade um die Ecke gebogen waren und auf Nina zukamen.
»Okay«, sagte sie halblaut und steckte zum Schein noch einmal den ganzen Oberkörper durch die hintere Tür. »Du kriegst ja dein Eis, aber dann musst du hinterher auch Ruhe geben, einverstanden?«
Sie machte eine kleine Kunstpause, während sie zu dem Mann mit dem Hund blickte, der jetzt in Hörweite war, sich aber quälend langsam bewegte.
»Mama ist in zwei Minuten wieder zurück«, fügte sie hinzu. Dann knallte sie die Tür zu und schloss das Auto über die Zentralverriegelung ab, machte resolut kehrt und ging mit raschen Schritten auf den Stationsvej zu. Die kleine Gruppe langhaariger Provinzteenager schien weder sie noch ihre kleine Show bemerkt zu haben. Sie wichen nur gerade so weit zur Seite, dass sie an ihnen vorbeikam. Hinter sich hörte sie die seltsame Mischung aus Teenagergerede und SMS-Schreiben. Mit denen würde sie auf keinen Fall Probleme bekommen.
La Maison Des Petites hatte genau die befürchtete Auswahl. Ein
Weitere Kostenlose Bücher