Die Lieferung - Roman
worden. Eine Frau, die in den Fall verwickelt sein könnte, hatte mit dem Kind möglicherweise auf dem Spielplatz des Kindergartens Kontakt aufgenommen. Ob es denkbar sei, dass jemand vom Personal die Frau beobachtet habe? Oder sonst einen anderen Fremden in der Nähe der Kinder?
»Schokolade«, sagte Sigita. »Denken Sie daran, die Schokolade zu erwähnen.«
Er nickte abwesend, während er Frau Šaraškienės Antwort lauschte.
Dann fragte er direkt, ohne Rücksicht auf Sigitas Anwesenheit zu nehmen.
»Was haben Sie für einen Eindruck von Mikas Ramoškienės Mutter?«
Sigita spürte, dass sie rot wurde. Was bildete er sich ein? Was sollte Frau Šaraškienė jetzt denken?
»Danke. Ich würde gerne mit der Gruppenleiterin sprechen. Würden Sie sie bitten, mich unter dieser Nummer anzurufen, wenn es ihr passt? Ausgezeichnet. Herzlichen Dank für Ihre Mitarbeit.«
Er legte auf.
»Es scheint, als hätte eine der Pädagoginnen tatsächlich Ihre blonde Frau bemerkt und sie gebeten, den Kindern keine Süßigkeiten zu geben. Aber sie hatte nicht nur mit Mikas Kontakt.«
»Mag sein. Aber Mikas ist weg!«
»Ja.«
Sie wollte nicht fragen. Sie wollte nicht. Trotzdem kamen ihr die Worte über die Lippen.
»Was hat sie über mich gesagt?«
Der Anflug eines Lächelns huschte über seinen Mund, das erste Anzeichen von Menschlichkeit, das sie bei ihm auszumachen vermochte.
»Dass Sie eine ganz ausgezeichnete, verantwortungsvolle Mutter sind. Eine von denen, die auch finanziell ihren Beitrag leisten. Sie schätzt Ihr Engagement sehr.«
Man konnte den Kindergarten auf freiwilliger Basis jeden Monat auch finanziell unterstützen. Das Geld wurde für den Erhalt der Einrichtung, die Erneuerung von Spielgeräten und gewisse kulturelle Aktivitäten der Kinder verwendet, für die das kommunale Budget nicht ausreichte. In den ersten Jahren nach dem Kauf ihrer Wohnung war Sigita das schwergefallen, aber es war für sie immer eine Frage der Ehre gewesen, »eine von denen zu sein, die auch finanziell ihren Beitrag leisten«.
»Dann glauben Sie mir jetzt?«
Er musterte sie eine Weile. Klick, klick, klick. Dieser verdammte Kugelschreiber.
»Ihre Erklärung ist in gewissen Punkten gestützt worden«, sagte er dann etwas widerstrebend.
»Ja, aber dann tun Sie doch etwas!« Sie konnte ihre Verzweiflung nicht mehr im Zaum halten. »Sie müssen ihn finden!«
Klick, klick, klick.
»Ich mache jetzt einen Bericht und schreibe den Jungen zur Fahndung aus«, verkündete er dann.
Sigita spürte spontan eine gewisse Erleichterung. Endlich glaubte ihr jemand, jedenfalls fürs Erste. Sie zog das Bild von Mikas aus ihrer Brieftasche. Es war beim Mittsommerfest des Kindergartens aufgenommen worden: Mikas stand in seinen Sonntagskleidern und mit einem Kranz aus Eichenlaub in den Händen unsicher lächelnd da. Sie erinnerte sich noch genau,
wie er sich damals gewehrt hatte, den Kranz auf den Kopf zu setzen »wie die Mädchen«.
»Danke«, sagte sie. »Vielleicht hilft Ihnen das hier.«
Sie legte das Bild vor Gužas auf den Schreibtisch. Dann wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass es eigentlich zu früh für Erleichterung war. Vielleicht lag es an der Art, wie er das Bild in die Hände nahm, so seltsam zögernd, als glaubte er nicht wirklich, dass es etwas nützte.
»Frau Ramoškienė … gibt es eine Chance, dass es sich bei dem Paar, das Ihren Jungen mitgenommen hat, um jemand aus Ihrem Bekanntenkreis handelt, jemand aus der Familie?«
»Nein, das … das glaube ich nicht. Die Frau kenne ich ganz sicher nicht. Den Mann habe ich ja für Darius gehalten, so dass ich Frau Mažekienė gar nicht gefragt habe, wie er ausgesehen hat.«
»Und es hat keinerlei Kontaktversuch gegeben? Keine Forderungen? Gibt es jemand, der Sie irgendwie erpressen oder unter Druck setzen könnte?«
Sie schüttelte stumm den Kopf. Aber seine Worte hatten Spekulationen in ihrem Kopf in Gang gesetzt. Konnte es etwas mit Janus Constructions zu tun haben, mit Dobrovolskij und anderen Kunden wie ihm und den Zahlen, die es nur in ihrem Kopf gab? Sie wusste nicht, welchen Zusammenhang es geben könnte, und hatte auch keinerlei Hinweise dieser Art erhalten.
Sie bemerkte, dass er sie intensiv musterte und das Klicken des Kugelschreibers aufgehört hatte.
»Was wollen die mit ihm?«, fragte sie leise. »Warum stiehlt man die Kinder von anderen Menschen?«
»Wenn ein Kind entführt wird, gibt es dafür häufig persönliche Gründe, weil man eben genau dieses Kind will -
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